Das heute gültige Berufsbildungsgesetz aus dem Jahre 2004 ist stark geprägt von der Erfahrung eines grossen Lehrstellenmangels, wie er erstmals 1996 diagnostiziert wurde. Dieser Kontext hat sich geändert. Heute befinden wir uns in der Situation eines zunehmenden Fachkräftemangels. In der Bildungspolitik drängen sich damit neue Fragen und Probleme in den Vordergrund. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband von 170‘000 Arbeitnehmenden, möchte vier Herausforderungen hervorheben, die in der laufenden Legislatur angepackt werden müssen.
Die Berufsbildungspolitik musste sich in den letzten 16 Jahren stark mit dem Thema „Lehrstellenmangel“ auseinandersetzen. Die vielen Projekte und Reformen haben erfreulicherweise zu spürbaren Verbesserungen geführt. Die Anzahl Lehrstellen konnten erhöht, die Probleme besser erfasst und wichtige Instrumente geschaffen oder verfeinert werden. Wichtigen Anteil am Erfolg und an den Verbesserungen haben namentlich
- das stark ausgebaute Lehrstellenmarketing in seinen unterschiedlichsten Formen
- die Brückenangebote, gesetzlich motiviert durch den Artikel 12 des Berufsbildungsgesetzes1
- die Möglichkeit der Finanzierung von Berufsbildungsprojekten über die Artikel 54 und 55 des neuen Berufsbildungsgesetzes
- die bewusst eingesetzte Kosten-Nutzen-Analyse in der Grundbildung in Bezug auf die Lehrbetriebe
- die Einführung des Case-Management Berufsbildung und
- die Schaffung der Attestlehre.
Natürlich hätten diese Instrumente ohne das grosse Engagement vieler Personen in den Kantonen, den Organisationen der Arbeitswelt, der Lehrerschaft und beim Bund wenig Wirkung gezeitigt.
Neue Herausforderungen
Mit dem Übergang vom Lehrstellenmangel zum Fachkräftemangel kristallisieren sich für die Berufsbildung neue Herausforderungen heraus. Noch steht man bei der Problemerfassung erst am Anfang. Niemand weiss so genau, wie eine erfolgreiche Berufsbildungspolitik im neuen Kontext auszusehen hat. Hier soll deshalb skizzenhaft versucht werden, auf einige Herausforderungen hinzuweisen.
Nahtstelle 1
Auch in Zukunft wird es Probleme an der Nahtstelle 1, d.h. beim Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II geben. Allerdings ist das Hauptproblem nicht mehr der Mangel an Lehrstellen, sondern eine mangelnde Nachfrage nach bestimmten Lehrstellen und ein Mangel an geeigneten Lehrlingen für bestimmte Lehrstellen. Die Politik wird also lernen müssen, Artikel 13 des Berufsbildungsgesetzes2 neu zu lesen und in geeigneter Weise darauf zu reagieren.
Nachholbildung
Das Berufsbildungsgesetz sieht zwar die Möglichkeit von Nachholbildungen von Personen ohne berufliche Erstausbildung vor. Es sieht aber in seiner heutigen Form nicht vor, dass die Nachholbildungen bewusst gefördert werden sollen. Travail.Suisse ist überzeugt, dass die Nachholbildungen von Personen ohne beruflichen Erstabschluss eines der zentralen bildungspolitischen Themen der nächsten Jahre werden muss. Dazu ist eine gesetzliche Änderung notwendig. Der Artikel 12 des Berufsbildungsgesetzes ist mit folgender Bestimmung zu ergänzen: „Die Kantone ergreifen Massnahmen, damit möglichst viele erwerbstätige Personen ohne beruflichen Erstabschluss über die anderen Qualifikationsverfahren einen Berufsabschluss erlangen können.“ Die Berufsbildung hat dafür zu sorgen, dass erwachsene Personen ohne beruflichen Erstabschluss, welche die Fähigkeit besitzen, einen Abschluss auf der Sekundarstufe II zu erreichen, diesen wirklich auch erreichen und so ihre Arbeitsmarktfähigkeit, ihre Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt und auch ihren Zugang zur berufsorientierten Weiterbildung markant verbessern können.
Wiedereinstieg
Gemäss Artikel 32 des Berufsbildungsgesetzes3 unterstützt der Bund Angebote, die den beruflichen Wiedereinstieg ermöglichen. Diese Bestimmung hat bis heute keine Wirkung entfaltet. Sie ist toter Buchstabe. Angesichts des Fachkräftemangels ist ihr Leben einzuhauchen, indem zum Beispiel Bildungsgutscheine für Wiedereinsteigerinnen und -einsteiger mit tiefem und mittlerem Einkommen eingeführt werden. Ein Parlament, das solche Ideen abschreibt4, zeigt, dass es sich des Fachkräftemangels noch nicht bewusst ist.
Ältere Arbeitnehmende
Welche Rolle spielen angesichts des Fachkräftemangels die älteren Arbeitnehmenden in Zukunft? Das heutige Berufsbildungsgesetz sieht direkt keine Massnahmen für ältere Arbeitnehmende vor. Es ist ernsthaft zu diskutieren, ob diesbezüglich nicht Abhilfe geschaffen werden muss. Eine Möglichkeit wäre zum Beispiel, dass Artikel 32 mit folgender Bestimmung ergänzt wird:
Art. 32 Massnahmen des Bundes
1 Der Bund fördert die berufsorientierte Weiterbildung.
2 Er unterstützt insbesondere Angebote, die darauf ausgerichtet sind:
b. älteren Arbeitnehmenden den Verbleib im Erwerbsleben zu ermöglichen.
Diese vier Beispiele zeigen, dass das Berufsbildungsgesetz angesichts des Fachkräftemangels neu gelesen und zum Teil ergänzt werden muss. Die Diskussionen und Anpassungen müssen in den nächsten drei Jahren erfolgen, so dass auf die neue Finanzierungsperiode der Bildung (2017-2020) Gelder für solche Projekte bereitgestellt werden können. Es ist zu hoffen, dass die Berufsbildung angesichts der sich neu abzeichnenden Probleme gleich kreativ, engagiert und erfolgreich ist wie angesichts des Lehrstellenmangels Mitte der 90er Jahre.
1Art. 12 Vorbereitung auf die berufliche Grundbildung
Die Kantone ergreifen Massnahmen, die Personen mit individuellen Bildungsdefiziten am Ende der obligatorischen Schulzeit auf die berufliche Grundbildung vorbereiten.
Zeichnet sich ein Ungleichgewicht auf dem Markt für berufliche Grundbildung ab oder ist ein solches Ungleichgewicht bereits eingetreten, so kann der Bundesrat im Rahmen der verfügbaren Mittel befristete Massnahmen zur Bekämpfung treffen.
3_Art. 32 Massnahmen des Bundes_
1. Der Bund fördert die berufsorientierte Weiterbildung.
2. Er unterstützt insbesondere Angebote, die darauf ausgerichtet sind: