In seinem Artikel vom 8. Oktober (Tagesanzeiger und Bund) ortet Prof. Philipp Sarasin das Hauptproblem der Bildungspolitik in einer zu tiefen Maturitätsquote. Die vorgebrachten Argumente sprechen aber kaum für eine Erhöhung der gymnasialen Maturitätsquote. Der ganze Artikel bringt zudem eine an Verachtung grenzende Geringschätzung der Berufsbildung, einschliesslich der Fachhochschulen und höheren Berufsbildung, zum Ausdruck. Dies darf nicht unwidersprochen bleiben.
Im „Tagesanzeiger“ und im „Bund“ vom 8. Oktober 2011 ist ein Artikel von Prof. Philipp Sarasin erschienen, welcher der Schweiz „Bildungsverachtung“ vorwirft. Das Grundproblem der Bildungspolitik wird in einer zu tiefen Maturitätsquote geortet. Als Gründe dafür nennt der Autor eine zu frühe und falsche Selektion für das Gymnasium, eine einseitige Ausrichtung des Bildungssystems auf die Berufsbildung und die „Bildungsverachtung eines kleinen Herrenvolkes“, das glaubt, fehlende Arbeitskräfte jederzeit aus dem Ausland importieren zu können.
Das Problem des Artikels ist nicht, dass Prof. Sarasin einen Mangel an Hochschulabgängerinnen und -abgängern ausmacht. Das ist – zumindest für gewisse Studienrichtungen – richtig. Und auch die Forderung nach einer höheren Maturitätsquote ist an sich diskutabel. Ein Problem ist aber, dass der Autor mit falschen Zahlen operiert und Argumente ins Feld führt, die eine starke Geringschätzung der Berufsbildung zum Ausdruck bringen.
Falsche Zahlen, inkohärente Argumentation, Geringschätzung der Berufsbildung
Den Ausführungen von Prof. Sarasin muss in mehreren Punkten widersprochen werden. Dabei kann gleichzeitig aufgezeigt werden, dass viele Aussagen eine starke Geringschätzung der Berufsbildung zum Ausdruck bringen:
Maturitätsquote von 20 Prozent: Die von Sarasin genannte Maturitätsquote von 20 Prozent ist schlicht falsch. Hier hat er offenbar die letzten zehn Jahre Bildungspolitik verpasst. Zusammen mit der Berufsmatura liegt die Maturitätsquote in der Schweiz bereits bei über 30 Prozent. Diese Veränderung hat auch zu einer veränderten Entscheidsituation bei den Jugendlichen selbst geführt. Diese entscheiden sich heute nicht mehr zwischen Gymnasium und Lehre, sondern sehr häufig zwischen Berufsmatur und gymnasialer Matur.
Maturität als einziger Zugang zu höherer Bildung: Definitiv falsch ist es, die Maturitätsquote mit dem Zugang zur höheren Bildung gleichzusetzen. Denn höhere Bildung ist nicht gleich akademische Bildung. Die höhere Berufsbildung und die Fachhochschulen gehören wie die ETH und die Universitäten zur tertiären Bildung. Und das ist nicht nur in der Theorie so, sondern in gewissen Berufen werden die Abschlüsse der höheren Berufsbildung sogar höher bewertet als die akademischen Abschlüsse (z.B. eidg. dipl. Wirtschaftsprüfer.
Fehlende Maturität als rudimentäre Bildung: Sarasin behauptet, dass „die grosse Mehrheit“ der Jugendlichen, die den Weg der Berufsbildung wählt, den Preis einer „bloss rudimentären Bildung“ bezahlt. Als Beleg verweist er auf das Problem des Illettrismus. Dies ist in zweierlei Hinsicht unhaltbar. Erstens ist es falsch, dass die grosse Mehrheit der Jugendlichen mit Berufsbildung Probleme mit Lesen und Schreiben haben. Zweitens wird damit – und das ist eine schlichte Ungeheuerlichkeit gegenüber allen Berufsleuten – die Berufsbildung mit rudimentärer Bildung gleichgesetzt.
Tiefe Jugendarbeitslosigkeit als Scheinargument: In einem weiteren Abschnitt versteigt sich Sarasin zur Bemerkung, dass der Verweis auf die tiefe Jugendarbeitslosigkeit nicht weiterhelfe, um eine im internationalen Vergleich tiefere Maturitätsquote zu rechtfertigen. Das ist völlig unverständlich, gibt es doch bildungspolitisch nichts Wichtigeres, als dass Jugendliche mit und dank ihrer Ausbildung Zugang zum Arbeitsmarkt finden und sich so eine eigene Existenz aufbauen können.
Abwürgen des Bildungswillens: Sarasin behauptet, dass durch die Eintrittshürden an die Gymnasien der Bildungswille vieler Jugendlicher abgewürgt werde. Auch diese Aussage bringt eine Geringschätzung für die Berufsbildung zum Ausdruck. Willen zur Bildung braucht es seiner Ansicht nach nur für die Matura, nicht für die Berufsbildung. Ein groteskes Missverständnis.
Gestiegener Bedarf an Akademikern: Natürlich ist die Nachfrage nach Akademikern und Akademikerinnen seit dem zweiten Weltkrieg gestiegen. Die Maturitätsquote ist aber seit dem zweiten Weltkrieg auch gestiegen. Allein seit 1985 hat sich die gymnasiale Maturitätsquote fast verdoppelt. Inklusive Berufsmaturität hat sich die Maturitätsquote sogar verdreifacht. Zudem wird die Nachfrage nach „Akademikern“ insbesondere in der Wirtschaft seit langem auch von Absolventen und Absolventinnen der Fachhochschulen befriedigt. Der Aspekt der Tertiarisierung der Berufsbildung wird vom Autor völlig ausgeblendet und als nutzlos dargestellt, was gerade für Ingenieurberufe und Manager sicher nicht stimmt.
Ausländische Chefs als Problem: Dass der Chef heute „in der Regel“ bereits ein zugezogener Akademiker ist, wie Sarasin ausführt, dürfte wohl ziemlich überzogen sein. Das gilt vielleicht für die Universitäten und für grosse, international ausgerichtete Unternehmen, sicher aber nicht flächendeckend für die Schweiz. Und dass die Schweizer Arbeitnehmenden mit ihrer Berufsbildung nur in den KMU in höhere Kaderpositionen kommen, sollte uns nicht so stören, sind doch 99 Prozent der Unternehmen in der Schweiz KMU.
Schweizer Bildungsverachtung: Der Schweiz gelingt es, über 90 Prozent der Jugendlichen zu einem nachobligatorischen Bildungsabschluss zu führen. Dieser Bildungserfolg entspricht nicht unbedingt der Bildungsverachtung, die Sarasin der Schweiz vorwirft. Diesen Vorwurf der Bildungsverachtung kann eigentlich nur vorbringen, wer sich allein auf universitäre Bildung kapriziert und die Berufsbildung einschliesslich der höheren Berufsbildung und der Fachhochschulen überhaupt nicht als Bildung anerkennt.
Fazit: Nicht alles ist falsch, war Prof. Sarasin schreibt. Aber nur wenig taugt als Argumentation für eine höhere gymnasiale Maturitätsquote. Insgesamt ist der Artikel weniger ein Plädoyer für ein besseres Bildungssystem als Ausdruck einer an Verachtung grenzenden Geringschätzung der Berufsbildung, inklusive Fachhochschulen und höherer Berufsbildung. Nicht die von Sarasin monierte Bildungsverachtung der Schweiz, sondern die Verachtung der Berufsbildung durch Sarasin selbst ist das Hauptproblem.
Mehr qualifizierte Arbeitskräfte – ja, aber anders
Dass in der Schweiz ein Mangel an gut qualifizierten Arbeitskräften besteht, ist unbestritten. Das betrifft aber nicht nur Akademiker und Akademikerinnen, sondern manifestiert sich viel allgemeiner in einem Mangel an ausgebildeten Fachkräften auf verschiedenen Bildungsniveaus. Deshalb darf die Frage, wie wir zu mehr gut ausgebildeten Arbeitskräften kommen nicht alleine an der gymnasialen Maturitätsquote festgemacht werden. Vielmehr müssen wir uns Gedanken darüber machen, was es braucht, damit das gesamte Bildungssystem inklusive Berufsbildung und höherer Berufsbildung die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnisse der Schweiz möglichst gut befriedigen kann.
Dazu sind aus unserer Sicht die folgenden Überlegungen relevant:
Demografie beachten: Die demografische Entwicklung führt dazu, dass weniger junge Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt eintreten als ältere Arbeitskräfte austreten. Wir können also nicht davon ausgehen, dass wir mit „der richtigen“ Bildung alle Mangelprobleme lösen. Denn wir haben nicht ein Allokationsproblem, sondern ein Mengenproblem. Das gilt auch für die Verteilung der Jugendlichen auf das Gymnasium und die Berufslehre. Wenn mehr Jugendliche aufs Gymnasium gehen, dann haben wir im Anschluss einfach weniger qualifizierte Berufsleute. Und diese fehlen ja heute bereits.
Berufsmatur fördern: Wenn wir die Maturitätsquote steigern wollen, dann sollten wir uns auf die Berufsmatura konzentrieren. Hier ist ein grosses Potenzial vorhanden. Erstens absolvieren heute ca. 80’000 Jugendliche eine Berufslehre, davon machen erst 12 Prozent eine Berufsmatura. Mit geeigneten Fördermassnahmen insbesondere auch für und in kleineren Ausbildungsbetrieben könnte diese Quote auf 25 Prozent verdoppelt werden. Damit könnten rasch einige tausend Jugendliche von höherer Allgemeinbildung und dem Zugang zu einer tertiären Bildung profitieren. Zudem ist dieser Weg vermutlich geeigneter als die Erhöhung der gymnasialen Maturitätsquote, um Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten Zugang zur tertiären Bildung zu verschaffen.
Studierende der höheren Berufsbildung mit Hochschulstudierenden gleichstellen: Die höhere Berufsbildung (höhere Fachschulen Technik, Gesundheit, Meisterprüfungen etc.) leistet heute mit über 25’000 Abschlüssen pro Jahr (zum Vergleich: ca. 21’000 Abschlüsse an Unis) bereits einen zentralen Beitrag zur Deckung des Bedarfs an gut qualifizierten Arbeitskräften. Gleichzeitig sind aber die Studierenden der höheren Berufsbildung in Bezug auf Mobilität und finanzielle Belastung deutlich schlechter gestellt als die Studierenden der Unis und Fachhochschulen. Hier muss Abhilfe geschaffen werden.
Zugang von FH-Absolventen und -Absolventinnen an Uni verbessern: Wenn – zu guter Letzt – das Schweizer Bildungssystem wirklich mehr Akademiker und Akademikerinnen hervorbringen soll, dann müsste zuerst einmal der Zugang für Absolventinnen und Absolventen der Fachhochschulen an die Universitäten und ETH vereinfacht werden. Dieses Potenzial an möglichen Akademikerinnen und Akademikern wird heute aufgrund von restriktiven Zugangshürden kaum genutzt. Anstatt einen Streit um die gymnasiale Maturitätsquote zu führen, könnten die Universitäten also eigenständig für mehr Studierende sorgen.
Fazit: Bildung allein wird die demografisch bedingte Problematik des Fachkräftemangels nicht beheben können. Das heisst, dass Migration wohl notwendig bleiben wird, um die Lebensqualität in der Schweiz zu sichern. Ganz sicher heisst es aber auch, dass das Heil nicht einfach in einer höheren gymnasialen Maturitätsquote zu suchen ist, sondern alle Wege zu einer höheren Bildung zu stärken sind. Und dazu gehören auch alle Wege der Berufsbildung, von der Berufsmaturität über die höhere Berufsbildung bis zum Zugang zur Universität und ETH für Fachhochabsolventinnen – und -absolventen.