Mehr Gesamtarbeitsverträge – mehr Lohnschutz
Bereits zum zweiten Mal in Folge wurde der Tag der Arbeit dieses Jahr vor dem Hintergrund der weltweiten Corona-Pandemie begangen. Die Entwicklungen der letzten Monate haben in aller Deutlichkeit gezeigt, wie fragil unsere globalisierten Gesellschaften sind und wie unsicher die Lage vieler Arbeitnehmender ist. Auch die Diskussion ums Rahmenabkommen hat eine neue Dynamik erhalten. Eine gute Gelegenheit, sich des Wertes der Sozialpartnerschaft klar zu werden und die Vorteile der Gesamtarbeitsverträge und des Lohnschutzes für die Arbeitnehmenden hervorzuheben.
Das aktuelle Rahmenabkommen ist noch nicht tot. In den letzten Tagen wurde es am Leben erhalten. Der Besuch des Bundespräsidenten in Brüssel bei der Kommissionspräsidentin von der Leyen hat aber deutlich gemacht, dass der Bundesrat das Rahmenabkommen nur mit klaren Zusagen zum Lohnschutz abschliessen will. Das ist richtig. Aus Sicht der Arbeitnehmenden darf die Fixierung der bilateralen Verträge für die nächsten Jahre nicht auf Kosten des sozialen Lohnschutzes gehen. Wir wissen aus den Lohnkontrollen, dass die Unterbietung unserer Löhne keine Erfindung ist, sondern eine Tatsache. Tagtäglich werden die Schweizer Löhne bewusst oder aus Nichtwissen unterboten und auf diese Weise den hiesigen Unternehmen und Arbeitnehmenden Konkurrenz gemacht – von Schweizer Unternehmen genauso wie von Unternehmen aus der EU.
Flankierende Massnahmen als Herzstück der Bilateralen
Wir können aber feststellen: Der Schweizer Lohnschutz ist kein Hindernis für den grenzüberschreitenden Austausch von Gütern und Dienstleistungen. Die Handelsbilanz und Untersuchungen zeigen, dass die Schweiz sehr gut in den EU-Binnenmarkt integriert ist. 2019 haben wir Güter und Dienstleistungen im Umfang von 127 Milliarden in die EU exportiert und für 148 Milliarden importiert (ohne GB). Trotz dieser Öffnung, die den bilateralen Verträgen geschuldet ist, ist unser Wohlstand nicht gesunken, die Zahl der Arbeitslosen nicht in die Höhe geschnellt und das Lohnniveau in der Schweiz nicht gesunken – ganz im Gegenteil. Dies ist den mit den bilateralen Verträgen verknüpften flankierenden Massnahmen zu verdanken. Travail.Suisse hat aus diesem Grund die bilateralen Verträge auch immer unterstützt.
Kernstück der flankierenden Massnahmen ist die Kontrolle der Löhne und Arbeitsbedingungen. In den Branchen mit einem Gesamtarbeitsvertrag kontrollieren die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften als Sozialpartner gemeinsam die Einhaltung der Lohn- und Arbeitsbestimmungen. Ein wichtiges Element ist seit 1941 bzw. seit dem entsprechenden Gesetz von 1956 – also schon vor den ersten bilateralen Verträgen – die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen für eine ganze Branche. Wenn 50 Prozent der Unternehmen und 50 Prozent der Arbeitnehmenden einer Branche einem GAV unterstellt sind, kann der Bundesrat ihn für die ganze Branche für gültig erklären. Die ausgehandelten Bestimmungen gelten dann auch für jene Unternehmen und Arbeitnehmende, die nicht Mitglied bei einer der vertragsschliessenden Parteien sind. So wird verhindert, dass diese Unternehmen durch Lohndumping günstigere Preise anbieten können. Dieses «System GAV», wie es die Neue Zürcher Zeitung in ihrem Artikel vom 31. März 2021 abschätzig bezeichnete, muss weiterhin getragen und finanziert werden.
Gesamtarbeitsverträge sind aber nur möglich, wenn sich sowohl auf Arbeitgeberseite wie auch auf Seite der Arbeitnehmenden genügend Mitglieder zusammenschliessen und bereit sind, zur Finanzierung der notwendigen Strukturen einen Mitgliederbeitrag zu leisten. Gewerkschaften und Personalverbände stehen dafür mit dem notwendigen Wissen zur Verfügung und stellen sicher, dass Verhandlungen auf Augenhöhe zwischen Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden geführt werden können. Leider werden nicht alle Arbeitnehmenden Mitglied einer Gewerkschaft oder eines Personalverbandes. Auch diese profitieren aber von einem GAV und zahlen deshalb einen Vollzugskostenbeitrag, um die GAV-Kosten mitzutragen. Trittbrettfahrende müssen so auch einen Beitrag leisten.
Wir sind stolz auf das «System GAV»
Das «System GAV» hat mit der Einführung der bilateralen Verträgen und der Personenfreizügigkeit mit den flankierenden Massnahmen an Wichtigkeit gewonnen und eine neue Dynamik erfahren. Dass diese Entwicklung den liberalen Wirtschaftskreisen im Umfeld der NZZ nicht gefällt, ist klar. Die soziale Absicherung der Arbeitnehmenden ist nicht in ihrem Interesse. Der Gewerbeverband sagt es offen, er will das Arbeitsgesetz deregulieren. Der Anreiz auf Seite der Arbeitgebenden, einen GAV abzuschliessen, wird dadurch sinken. Tatsache ist aber, dass wir in der Schweiz schon heute ein sehr liberales und arbeitgeberfreundliches Arbeitsgesetz haben, welches in den dazugehörigen Verordnungen oft sehr weit gehende branchenspezifische Ausnahmen gewährt.
Wenn die NZZ das «System GAV» diskreditiert, ist das nicht verwunderlich. Es ist aber letztlich ein Schnitt ins eigene Fleisch. Die Unternehmen profitieren von den GAV ebenso wie die Arbeitnehmenden, weil diese im Bereich der Löhne für ausgeglichene Bedingungen am Markt sorgen. Sie definieren die branchenüblichen Löhne, welche mittels der flankierenden Massnahmen auch gegenüber der Konkurrenz aus dem EU-Raum durchgesetzt werden. Diesen Punkt sieht offenbar auch der Gewerbeverband: Er unterstützt die flankierenden Massnahmen und steht bei den Verhandlungen zum Rahmenabkommen auf Seite der Gewerkschaften.
GAV sind im Interesse aller Beteiligten
Mehr Gesamtarbeitsverträge sind im Interesse der Unternehmen und der Arbeitnehmenden und wichtiger denn je. Nur rund 50 Prozent der Schweizer Arbeitnehmenden sind bislang einem GAV unterstellt. Natürlich wären Verbesserungen im Arbeitsgesetz, welche allen Arbeitnehmenden zugutekommen, wünschbar, im bürgerlich dominierten Parlament aber wenig wahrscheinlich. Um die soziale Situation der Arbeitnehmenden, insbesondere jenen in prekären Anstellungen, zu verbessern, müssen die Gewerkschaften und Personalverbände deshalb in weiteren Branchen Gesamtarbeitsverträge aushandeln. Anstellungen mit tieferen Löhnen ausserhalb der GAV-Bestimmungen müssen dabei verhindert werden.
Für zusätzliche Gesamtarbeitsverträge braucht es auf Seiten der Unternehmen entsprechende Arbeitgeberverbände und auf Seiten der Arbeitnehmenden genügend Mitglieder. Die NZZ würde besser in diesem Sinne für das «System GAV» werben und die Sozialpartnerschaft stützen. Diese dämmt die Ungleichheit ein und fördert den sozialen Zusammenhalt. Der Arbeitsfrieden in der Schweiz ist ein absolut essentieller Wert, der nicht einfach selbstverständlich betrachtet werden solle. Es ist eine traurige Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet der Direktor von Swissmem – also jenem Verband, der 1937 mit den Gewerkschaften den Arbeitsfrieden in der Metallbranche begründet hat – heute die Gewerkschaften und Personalverbände angreift und ihnen vorwirft, sie würden sich wegen des eigenen Profits gegen eine Änderung beim Lohnschutz im Rahmenabkommen aussprechen.
Sozialpartnerschaft stärken, Gewerkschaftsmitglied werden
Der Tag der Arbeit ist die passende Gelegenheit, alle Arbeitnehmenden der Schweiz aufzurufen: Werdet Mitglied bei einer Gewerkschaft oder einem Personalverband! Nur gemeinsam können wir uns für bessere Arbeitsbedingungen und Löhne einsetzen. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass Gesamtarbeitsverträge eine zusätzliche Sicherheit bieten und die Gewerkschaften und Personalverbände sich auch in Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit für ihre Mitglieder einsetzen. Wer sich erst in der Krise organisiert oder erst nach einer Kündigung bei der Gewerkschaft meldet, kommt oft zu spät. Jetzt ist der Moment, Farbe zu bekennen. Die Klimajugend hat die Kraft der Gewerkschaften und Personalverbände erfasst und ruft die Jugend dazu auf, Mitglied zu werden. Gemeinsam wird es uns gelingen, die Sozialpartnerschaft weiterzuentwickeln, zu stärken und Verbesserungen für alle Arbeitnehmenden zu erreichen. Verschlechterungen des Arbeitsgesetzes, bei den Gesamtarbeitsverträgen und beim Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen werden wir weiter bekämpfen. Auch beim Rahmenabkommen.