Schweizer Wirtschaft: Fehlendes Bewusstsein für psychosoziale Risiken
Lange und flexible Arbeitszeiten und grosser Zeitdruck in der Arbeitswelt fordern ihren Tribut: Stress und psychosoziale Risiken nehmen laufend zu. Gleichzeitig foutieren sich die Unternehmen in der Schweiz mehrheitlich um diese Problematik und die Politik will mit einer einseitigen Flexibilisierung die Wochenarbeitsstunden gar weiter erhöhen, zusätzliche Überzeiten zulassen und Ruhe- und Erholungszeiten verkürzen – eine toxische Mischung für die Gesundheit der Arbeitnehmenden!
Neueste Zahlen der «Europäischen Unternehmensbefragung über neue und aufkommende Risiken» offenbaren ein fehlendes Bewusstsein der Schweizer Wirtschaft für die Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz ihrer Angestellten. Nur in einer Minderheit (47 Prozent) der Führungssitzungen in der Schweiz wird regelmässig über Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz gesprochen. Damit liegt die Schweizer Wirtschaft nicht nur deutlich hinter Spitzenreitern wie Tschechien (83 Prozent) oder Schweden (80 Prozent) zurück, sondern hinkt auch abgeschlagen dem EU-Durchschnitt (66 Prozent) hinterher. Eine Risikobeurteilung – also eine systematische Überprüfung der Gefährdung sowie Massnahmen zur Kontrolle derselben – wird gar nur von 39 Prozent der Unternehmen durchgeführt. In den europäischen Ländern findet eine solche Analyse der Arbeitsbedingungen in 77 Prozent der Unternehmen und damit doppelt so häufig wie in der Schweiz statt. Zudem weist die Schweiz hier seit 2014 sogar eine rückläufige Tendenz auf. Obwohl Stress, psychosoziale Risiken und daraus resultierende gesundheitliche Gefährdungen deutlich auf dem Vormarsch sind, scheint sich die Wirtschaft in der Schweiz darum zu foutieren. Rund 70 Prozent der Unternehmen haben in der Schweiz keinen Massnahmenplan zur Vermeidung von arbeitsbedingtem Stress. Dabei ist Stress längst zu einem Massenphänomen in der Arbeitswelt geworden. Aus dem «Barometer Gute Arbeit» von Travail.Suisse ist bekannt, dass sich der Anteil der Arbeitnehmenden, die sich durch ihre Arbeit oft oder sehr häufig gestresst fühlen, kontinuierlich steigt (vgl. Abbildung 1). Lag dieser Anteil 2016 noch bei 37.8 Prozent, so ist er bis 2021 um weitere 6.3 Prozentpunkte gestiegen.
Abbildung 1: Anteil Arbeitnehmende, die oft/sehr häufig durch die Arbeit gestresst sind
Lange Arbeitszeiten und Zeitdruck als entscheidenden Risikofaktoren
Die Unternehmensbefragung offenbart auch zwei Risikofaktoren für psychische und physische Belastungen, die in der Schweiz deutlich häufiger auftreten als in anderen europäischen Ländern. Es sind dies lange und unregelmässige Arbeitszeiten einerseits und ein ausgeprägter Zeitdruck andererseits. Die langen Arbeitszeiten sind ausführlich dokumentiert sind – so liegen gemäss Eurostat die wöchentlichen Arbeitsstunden der Vollzeiterwerbstätigen in der Schweiz 2020 mit 42.7 Stunden genau 2 Stunden höher aus als im EU-Durchschnitt. Und während Zeitdruck in gut 40 Prozent der Unternehmen in Europa eine Realität ist, liegt dieser bei Unternehmen in der Schweiz bei gut 60 Prozent. Dies deckt sich mit bisher unveröffentlichten Ergebnissen aus dem «Barometer Gute Arbeit» für das Jahr 2021. Demnach arbeiten in der Schweiz lediglich 9.8 Prozent der Arbeitnehmenden nie unter Termindruck, während dies für eine Mehrheit von 56.1 Prozent oft oder sehr häufig der Fall ist (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: Häufigkeit von Zeitdruck
Schutz vor Stress und psychosozialen Risiken statt einseitiger Flexibilisierungen – Politik und Wirtschaft sind gefordert
Stress ist ein Auslöser für die klassischen Verschleisserscheinungen, die dazu beitragen, dass bereits heute ein Drittel der Arbeitnehmenden aus gesundheitlichen Gründen nicht bis zur ordentlichen Pensionierung arbeiten, sondern frühzeitig aus dem Erwerbsprozess ausscheiden. Es ist dies ein «Verschleiss» von Arbeitskräften, der die schweizerische Volkswirtschaft in Zeiten der demografischen Überalterung und dem damit zusammenhängenden Fachkräftemangel teuer zu stehen kommt. Dazu kommen die direkten volkswirtschaftlichen Kosten. Die «Gesundheitsförderung Schweiz» berechnet die Produktivitätsverluste aufgrund von Absentismus und Präsentismus allein auf rund 6.5 Mrd. Franken – Gesundheitskosten und allfällige Leistungen der Sozialversicherungen bei eingeschränkter oder ausfallender Erwerbsfähigkeit nicht eingerechnet. Die europäische Unternehmensbefragung beweist, dass das Bewusstsein für psychosoziale Risiken in der Schweizer Wirtschaft nur ungenügend vorhanden ist. Die Arbeitgebenden sind gefordert, ihre Fürsorgepflicht gegenüber ihren Arbeitnehmenden auch im Bereich der psychosozialen Risiken wahrzunehmen und neben einer systematischen Analyse der Risikosituation auch geeignete Massnahmen zum Schutz der Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu ergreifen.
Aber auch die Politik ist gefordert. Im Arbeitsgesetz und den dazugehörenden Verordnungen tauchen weder Stress noch psychosoziale Risiken explizit als Gefährdung der Gesundheit auf. Und obwohl die Stress-Problematik in aller Munde ist, läuft auf dem politischen Parkett ein weiterer Angriff auf die Schutzbestimmungen des Arbeitsgesetzes. Unter dem Stichwort der Flexibilisierung der Arbeitszeitregelungen sollen als Folge der parlamentarischen Initiative von alt-Ständerat Graber (16.414) die Belastungsspitzen deutlich erhöht werden. Eine Ausdehnung der wöchentlichen Arbeitsstunden, verkürzte Ruhe- und Erholungszeiten und weniger klare Regelungen zur Kompensation von Überzeit wären die Folge. Damit würden die psychosozialen Belastungen deutlich erhöht und die Gesundheit der Arbeitnehmenden in unverantwortlicher Weise aufs Spiel gesetzt! Travail.Suisse fordert die WAK-S dazu auf, die immer noch hängige parlamentarische Initiative endlich abzuschreiben. Was es stattdessen braucht, ist ein Ausbau des Schutzes vor Stress und psychosozialen Risiken. Ein erster Schritt dazu, ist eine erneute Durchführung der beinahe 10-jährigen Stressstudie des SECO und ein kontinuierliches Stressmonitoring. Nur so kann es gelingen, die Entwicklung im Auge zu behalten und darauf aufbauend geeignete Schutzmechanismen für die Arbeitnehmenden zu entwickeln. Ausserdem muss der Schutz vor Stress und psychosozialen Risiken explizit im Arbeitsgesetz verankert werden, nur schon, um ein klares Zeichen über die Wichtigkeit dieses Themas an alle Unternehmen in der Schweiz zu senden.