Kaufkraft im Sinkflug – Arbeitgeber und Politik sind gefordert
Die finanzielle Lage der Schweizer Haushalte hat sich in den letzten 50 Jahren noch nie so rasant verschlechtert wie in diesem Jahr. Vergleichbar ist die Situation einzig mit der Lage während der tiefen Rezession in den 1990er Jahren. Die Reallöhne sinken in diesem Jahr wie nie zuvor in den letzten 35 Jahren und die Armut nimmt zu. Dies trotz hohem Wirtschaftswachstum und tiefer Arbeitslosigkeit.
Die schweizerische Volkswirtschaft hat sich nach der Pandemie rasch erholt. Die Wertschöpfung wuchs im vergangenen und in diesem Jahr mit 4% bzw. 2% deutlich. Dies hat sich auch auf die Beschäftigungssituation ausgewirkt. Noch nie haben in der Schweiz so viele Personen gearbeitet. Die Erwerbslosenquote ist dadurch gesunken und lag im 2. Quartal 2022 noch bei 4.3%. Damit liegt sie zwar immer noch auf einem relativ hohen Niveau, allerdings tiefer als in den Jahren 2012-2018 (4.8%) und während der Corona-Pandemie (5.5%). Die Rekrutierungsschwierigkeiten haben im Jahr 2022 neue Rekordwerte erreicht. Nie war es in den letzten 18 Jahren so schwierig wie heute, Personal zu finden.
Ein hohes Wachstum der Wertschöpfung, eine deutliche Zunahme der Beschäftigung, eine tiefe Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel – eigentlich müsste die Situation der Arbeitnehmenden hervorragend sein. Es zeigt sich aber gerade das Gegenteil: ihre finanzielle Situation ist so schlecht wie in den letzten vierzig Jahren praktisch nie. Der Aufschwung geht finanziell bisher an den Arbeitnehmenden vorbei. Gewachsen sind vor allem die Lebenshaltungskosten und die Erschöpfung. (1)
Einschätzung der persönlichen finanziellen Lage in den vergangenen12 Monaten und Wachstum des Bruttoinlandproduktes
Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco): Konsumentenstimmung, 4. Q. 1972-3.Q.2022, Wachstum reales BIP in % (geglättet)
Blaue Linie = Wachstum des Bruttoinlandproduktes (geglättet), gestrichelte Linie: nicht geglättet
Schwarze Linie = Entwicklung der finanziellen Lage der Haushalte in den letzten 12 Monate
Stagnierende Lohnentwicklung
Für die rasante Verschlechterung der finanziellen Lage sind vor allem drei Gründe verantwortlich: die Entwicklung der Preise, die Entwicklung der Löhne und die verzögerte Anpassung bei den Sozialtransfers (Renten, Ergänzungsleistungen, Sozialhilfe). Anteilsmässig am bedeutendsten sind dabei die Löhne. Die Entwicklung der Kaufkraft unterscheidet sich aber bei Rentnerinnen und Rentnern grundsätzlich kaum von jener der restlichen Bevölkerung. Die Reallöhne sind in den letzten 35 Jahren noch nie so stark gesunken wie in diesem Jahr. Die Kaufkraft ist durch den raschen und deutlichen Anstieg der Preise eingebrochen. Die massive finanzielle Verschlechterung bei den erwerbstätigen Haushalten erklärt sich somit direkt aus der Entwicklung der Reallöhne, wobei sich die gleiche Entwicklung auch bei den Rentnerinnen und Rentnern zeigt.
Wachstum der Reallöhne
Bundesamt für Statistik 1987-2020, UBS 2021 und 2022, in %
Methodische Bemerkung: Die Schätzung der Lohnentwicklung für die Jahre 2021 und 2022 ist etwas tückisch, da die Daten des Bundesamts für Statistik offensichtlich verzerrt sind. Im Jahr 2021 wurde ein Rückgang der Nominallöhne registriert (-0.2%), während in diesem Jahr mit einem deutlichen Anstieg der Nominallöhne gerechnet wird (+2%). Beides dürfte falsch sein. Deshalb wird in der Grafik die plausiblere Schätzung der UBS verwendet (Nominallohnentwicklung: +0.6% und +0.8%), welche auch etwa der Schätzung von Travail.Suisse entspricht. Auch ein Anstieg der Nominallöhne um 2% in diesem Jahr würde zu einem rekordhohen Rückgang der Reallöhne führen.
Wachsende Produktivität hat Spielräume geschaffen
Ein von Arbeitgebern häufig geäussertes Argument gegen Lohnerhöhungen lautet: es muss zuerst verdient werden, was verteilt werden soll. Das Argument soll hier für einmal nicht in Frage gestellt werden. Vielmehr interessiert, ob verteilt wird, was verdient wurde. Damit dies der Fall ist, müssen die Reallöhne mit der Produktivität ansteigen. (2) Seit Beginn der Frankenstärke in den Jahren 2015 und 2021 lag die Produktivitätsentwicklung im Durchschnitt bei über einem Prozent. Im Jahr 2021 lag sie sogar bei hohen 1.7%. Im gleichen Zeitraum stiegen die Reallöhne gerade einmal um 0.6%. Sie haben folglich nicht mit der Produktivitätsentwicklung Schritt gehalten. Es wurde somit kaum an die Arbeitnehmenden verteilt, was verdient worden ist. Profitiert davon haben vielmehr die Arbeitgeberseite beziehungsweise die Aktionäre. Lohnzurückhaltung ist somit angesichts der Produktivitätsentwicklung der letzten Jahre komplett fehl am Platz. Vielmehr zeigt die Entwicklung der letzten sieben Jahre, dass Spielräume für Lohnerhöhungen bestehen. Die Arbeitnehmenden haben ihren Teil zur Zunahme der Wertschöpfung beigetragen. Sie sollen diese auch in Form höherer Löhne ausbezahlt erhalten. Diese sind in der aktuellen Lage für viele Arbeitnehmende dringend nötig.
Wachstum der Reallöhne und der Produktivität
Bundesamt für Statistik, eigene Berechnungen, 2014-2022, indexiert, 2014=100
Inflation als Problem
Mit 3% liegt die Inflationsrate auf dem höchsten Niveau seit 1993. Sie ist damit für schweizerische Verhältnisse aussergewöhnlich hoch und entspricht nicht den Erfahrungen der letzten 30 Jahre. Die wiederholt geäusserte These, dass drei Prozent Inflation kein Problem seien, stimmt deshalb aus heutiger Sicht nur theoretisch. Die aktuelle Inflationsrate ist nämlich nur dann kein Problem, wenn richtig damit umgegangen wird. Bei diesen Anpassungen scheinen aber Arbeitgeber und der Bundesrat teilweise völlig aus der Übung zu sein. Steigende Preise erfordern eine Anpassung bei den Löhnen und Sozialtransfers in mindestens gleicher Höhe, damit keine Reallohnsenkungen erfolgen. Als Folge davon steigen auch die Steuereinnahmen und die Sozialversicherungsbeiträge, wodurch die zusätzlichen Ausgaben kompensiert werden können. Geschieht dies hingegen nicht, dann schränken Arbeitnehmende, Rentnerinnen und Rentner ihren Konsum ein, haben bei steigenden Zinsen Mühe ihre Hypothekarkredite zu bedienen oder rutschen in die Armut ab. Eine Inflation von drei Prozent ist tatsächlich theoretisch kein Problem. Sie kann sogar vorteilhaft sein. Wenn aber die entsprechenden Anpassungen bei Löhnen und Sozialtransfers nicht erfolgen, dann wird auch diese Inflationsrate zum Problem. Dies insbesondere dann, wenn die Inflationsrate für den Normalverbraucher deutlich höher liegt und nicht alle Kostensteigerungen umfasst.
Inflationsrate ≠ Erhöhung der Lebenshaltungskosten
Zur Berechnung der Inflationsraten wird nämlich ein Durchschnittswert verwendet. Die Lebenshaltungskosten von Gering- und Durchschnittsverdienern steigen deshalb effektiv wesentlich stärker als dies die Inflationsrate suggeriert. Dies weil sie einen hohen Teil ihres Einkommens für Wohnen, Essen und Verkehr ausgeben müssen und hier die Preissteigerungen besonders deutlich sind. Gegenüber dem Vorjahr liegen die Lebenshaltungskosten 2022 um 4-5% höher. Hinzu kommen bereits jetzt absehbare zusätzliche Steigerungen bei den Lebenshaltungskosten. Am 1. Januar 2023 steigen die Krankenkassenprämien um 6.6%. Dies entspricht einem Rückgang der verfügbaren Einkommen um 0.7%. Zusammen mit der Inflation steigen die Lebenshaltungskosten im kommenden Jahr somit erneut um durchschnittlich 3%. Dabei werden die Kosten für Arbeitnehmende und RentnerInnen mit tiefen und mittleren Einkommen wiederum überdurchschnittlich sein. Den höheren Lebenshaltungskosten aus den Jahren 2022 und 2023 von durchschnittlich sieben bis acht Prozent, werden Lohnsteigerungen um vielleicht vier Prozent gegenüberstehen. Dabei wird der stärkere Anstieg der Kosten für Arbeitnehmende mit tiefen und mittleren Einkommen im Jahr 2023 noch nicht einmal mitberücksichtigt. Unter dem Strich bliebe der Aufschwung nach Corona für Arbeitnehmende mit Blick auf die Löhne damit nur ein leeres Versprechen. Die Zunahme der Armut mitten im wirtschaftlichen Aufschwung hingegen ist schlichtweg beschämend.
Zunehmende Armut im wirtschaftlichen Aufschwung
Sinkende Reallöhne und stark steigende Krankenkassenprämien werden insbesondere Familien aus dem Mittelstand hart treffen. Eine vierköpfige Familie wird alleine durch die höheren Krankenkassenprämien im Jahr 2023 durchschnittlich mit zusätzlichen Kosten von 800 Franken belastet werden. Hinzu kommen die Preissteigerungen der Jahre 2022 und 2023, welche für Mittelstandsfamilien über beide Jahre hinweg zu Mehrkosten von 4000-6000 Franken führen. Ein Blick auf die Statistik der materiellen Entbehrungen zeigt dabei folgendes: bereits heute können 23% der Familien eine unerwartete Ausgabe von 2'500 Franken nicht innerhalb eines Monats bewältigen. Ein entsprechender Anstieg der Heizkostenabrechnung am Ende des Jahres wird somit nicht wenige Familien bereits in arge finanzielle Schwierigkeiten bringen. Bei Einelternhaushalten beträgt dieser Anteil sogar über 40%. Die Kostensteigerungen werden somit insbesondere Familien hart treffen, wie Studien bestätigen. (3) Die Politik ist deshalb gefordert, Entlastungen beispielsweise über stärkere Verbilligungen für die Krankenkassenprämien zu ermöglichen.
Fazit
Wir sind in einem Aufschwung, bei dem Arbeitnehmende und Rentnerinnen und Rentner aktuell real stetig an Einkommen verlieren. Die Armut wächst und bei nicht wenigen Familien wird am Ende des Jahres zu wenig Geld vorhanden sein, um alle Rechnungen zu begleichen. Dies trotz einer hervorragenden Lage am Arbeitsmarkt, herrschendem Fachkräftemangel und einer vergleichsweise tiefen Arbeitslosigkeit. Arbeitgeber und Parlament sind deshalb gefordert. Es gilt die Kaufkraft zu sichern und zu zeigen, dass die Schweiz Inflation und Solidarität nicht verlernt hat.
Quellen:
- Gesundheitsförderung Schweiz (2022): «Job-Stress-Index 2022 – Monitoring von Kennzahlen zum Stress bei Erwerbstätigen in der Schweiz», Faktenblatt 72, Bern.
- Travail.Suisse (2022): «Grundsätze der Lohnpolitik – Kaufkraft sichern, Produktivitätsgewinne gerecht verteilen und ein hohes Beschäftigungsniveau ermöglichen»
- Hümbelin O. und O. Lehmann (2022): «Schätzung der Zahl der Menschen in finanziell schwierigen Lebenslagen knapp oberhalb der Armutsgrenze», Berner Fachhochschule