Inklusion in der Bildung und in der Arbeit vorantreiben
Inklusionsmassnahmen im Arbeits- und Weiterbildungsbereich, damit diese auch Menschen mit Behinderungen zugänglich sind, müssen gefördert werden. Dazu sind alle involvierten Akteurinnen und Akteure in der Schweiz angehalten, so verlangt es der UN-Behindertenrechtsausschuss. Hinzu kommt, dass damit beträchtliche Folgekosten von Behinderungen gesenkt werden können. Dies zeigt ein aktueller Bericht am Beispiel von Hör- und Sehbeeinträchtigungen.
Gemäss Bundesamt für Statistik kann die Anzahl Menschen mit Behinderungen auf rund 1,8 Millionen und somit ein Fünftel der Bevölkerung in der Schweiz geschätzt werden (1). Sensorielle Beeinträchtigungen sind hierbei die verbreitetste Behinderungsform. Sie stehen auch auf dem zweiten Rang der Ursachen für durch Krankheit beeinträchtigte Lebensjahre – nach Nackenschmerzen und vor depressiven Störungen (2). Gemäss dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium Obsan sind 6.2% (resp. 530'000 Menschen) der schweizerischen Bevölkerung sehbeeinträchtigt, 8,4% (730'000 Menschen) hörbeeinträchtigt und weitere 1,2 % (rund 100’000 Menschen) hörsehbeeinträchtigt (3). Sensorielle Beeinträchtigungen können zahlreiche Folgen haben. Auf individueller Ebene können sie sich negativ auf den Schulerfolg und die Erwerbschancen auswirken und die Lebensqualität von Betroffenen vermindern. Auch die Belastung von Angehörigen gehört hier mitgerechnet.
Betrachtet man diese und weitere Folgen mit wirtschaftlichem Blick, so zeigt sich, dass die «direkten Kosten» (z.B. medizinische Behandlungen und technische Hilfsmittel) um ein Vielfaches tiefer liegen als die «indirekten Kosten» (durch verringerte Erwerbsteilnahme oder Sorgearbeit von Angehörigen) und die «intangiblen Kosten» (Verlust an Lebensqualität durch verwehrte Teilhabe der Betroffenen) (4).
Schaffung inklusiver Bildungsangebote und Arbeitsplätze
Für Travail.Suisse Formation TSF sowie ihre Partnerorganisationen Schweizerischer Blinden- und Sehbehindertenverband SBV, Schweizerischer Gehörlosenbund SGB-FSS und Pro Audito Schweiz müssen die «direkten» Massnahmen, die einen stark medizinischen Fokus haben, zwingend durch Inklusionsmassnahmen ergänzt werden. Diese Massnahmen, die auf die sozial-wirtschaftliche Teilhabe von Betroffenen abzielen, sei es in der Berufsbildung, in der Weiterbildung, sowie im Arbeitsmarkt, müssen stärker gefördert werden.
So zeigte bereits die SAMS-Studie (Studie zum Arbeitsleben von Menschen mit Sehbehinderung, 2015) klar auf, dass berufsbezogene Weiterbildungen die Entwicklungsmöglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt wesentlich erhöhen. Sehbeeinträchtigte besuchen aber im Vergleich mit der gut sehenden Bevölkerung der Schweiz deutlich weniger fachliche Weiterbildungen. Das liegt einerseits daran, dass sie teilweise durch sehbehindertenspezifische Weiterbildungen absorbiert sind, die den Fokus auf das Kompensieren ihrer Beeinträchtigung beispielsweise durch das Anwenden von Hilfstools legen. Andererseits werden berufsbezogene Weiterbildungen wenig besucht, da diese häufig nicht barrierefrei gestaltet sind. Die SAMS-Verfasserinnen empfehlen daher ganz klar eine Entwicklung auf Seiten der Betroffenen als auch auf Seiten der Weiterbildungsanbieter:innen (5): «Spezialisierte Stellen haben Menschen mit Sehbehinderung auf die hohe Bedeutung einer beruflichen Weiterqualifizierung hinzuweisen und private Anbieterinnen und Anbieter von Weiterbildungsangeboten für Barrierefreiheit und Zugänglichkeit zu sensibilisieren.»
Auch die Studie zur Arbeitsmarktsituation von gehörlosen und hörbehinderten Personen in der Schweiz, lässt auf ähnliche Resultate schliessen: Gehörlose und hörbehinderte Mitarbeitende werden vergleichsweise oft unter ihrem Potential angestellt und besuchen verhältnismässig weniger berufliche Weiterbildungen. Da beide Faktoren für eine langfristige Arbeitsmarktfähigkeit jedoch von grosser Bedeutung sind, gelten sie als zentrale Barrieren, die es zu überwinden gilt. Auch diese Studie legt den Schluss nahe, dass einerseits Betroffene für das lebenslange Lernen sensibilisiert werden müssen und gleichzeitig die Weiterbildungen zugänglicher gemacht werden müssen, damit ihre Teilnahme gewährleistet ist (6).
Der Blick auf die Ressourcen rückt den Menschen ins Zentrum
Sowohl der Schweizerische Gehörlosenbund als auch der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband sind der Meinung, dass es für die Entwicklung der Schweizerischen Berufswelt zentral werde, dass Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen mit einer Ressourcenbrille angeschaut werden, also mit der Frage: «Was bringt diese Person (fachlich und persönlich) mit und was bringt sie weiter?» anstatt mit der Defizit-Brille, deren Ausgangsfrage Inklusion von Anfang an verunmöglicht: «Welche Aspekte fehlen dieser Person aufgrund ihrer Beeinträchtigung und welchen Mehraufwand verursacht sie für mich als Arbeitgeber:in oder als Weiterbildungsanbieter:in?». Oder, wie es Amrei Gerdes, Verantwortliche Arbeit beim SGB-FSS formuliert: «Das Potential und der Mehrwert der Person sollte in den Vordergrund rücken und nicht die «Behinderung». Viele hörende Menschen sehen immer nur den Hörstatus. Dieser sollte nebensächlich werden, denn dadurch behindern sie nur sich selbst und verpassen die Gelegenheit, gut ausgebildete Arbeitnehmende anzustellen.» Auch Simon Bart, Interessenvertreter für Bildung und Arbeitsintegration beim SBV, ist überzeugt, dass sich der ressourcenorientierte Ansatz für alle Beteiligten lohnt: «Alle Mitarbeitenden, ob mit oder ohne Sehbeeinträchtigung, sollten im Unternehmen nicht in eine Schablone gepresst werden, sondern jeweils die passenden Voraussetzungen erhalten, um ihre Stärken optimal entfalten zu können.»
Nur mit diesem eigentlich schon seit Langem geforderten Perspektivenwechsel, der bereits durch Begriffe wie Invalidität verhindert wird, rückt der Mensch ins Zentrum.
Stolpernde Umsetzung der Behindertenrechtskonvention: Viel Handlungsbedarf im Bereich der Inklusion
Dass das Bildungssystem in der Schweiz noch weit entfernt ist vom Ziel der Inklusion, stellte im April auch der UN-Behindertenrechtsausschuss fest (7), als er die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention durch die Schweiz zum zweiten Mal überprüfte: Schon die obligatorische Schulzeit verbringe ein Grossteil der Kinder mit Beeinträchtigung in Sonderschulen, anstatt dass vermehrt auf professionell aufgestellte inklusive Grundschulangebote gesetzt werde, wie von der Konvention verlangt. Dieser Mangel an einer inklusiven Strategie zieht sich dann auch in der Berufsbildung und anschliessend in der Arbeitswelt weiter. Der Transfer von geschützten Arbeitsplätzen hin zum offenen Arbeitsmarkt funktioniert häufig nicht, was bei Menschen mit Behinderungen tiefe Beschäftigungsquoten zur Folge hat. Auch die Verfasserinnen des Schattenberichts von Inclusion Handicap (der im Rahmen des Prüfverfahrens erstellt wurde) bestätigen, dass eine separative Beschulung oftmals in ein Leben der Segregation führt (8).
Tatsache ist, dass spätestens auf Ebene der Weiterbildung gar nicht alle Fachthemen separat beschult werden können und dass im Sinne eines beruflichen Netzwerkaufbaus inklusive Angebote unbedingt notwendig sind.
Inklusionsprojekte von Travail.Suisse Formation
Travail.Suisse Formation leistet hierbei dank finanzieller Unterstützung des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation SBFI wichtige Arbeit. Auf Grundlage einer Kriterienliste werden aktuell Weiterbildungsinstitutionen darin geschult und beraten, ihre Angebote auch Menschen mit Sehbehinderung zugänglich zu machen. Gleichzeitig ist in Zusammenarbeit mit betroffenen Gehörlosen und Hörbeeinträchtigten bereits der nächste Leitfaden in Arbeit, der auch den Zugang dieser Personen zur Weiterbildung verbessern will.
Private und öffentliche Weiterbildungsinstitutionen spielen somit eine wichtige Rolle auf dem Weg zu einer inklusiven Arbeitswelt. Für Weiterbildungsanbietende gilt es nun, sich mit den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen auseinanderzusetzen, um inklusionsfit zu werden.
Quellen:
- Bundesamt für Statistik: Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen. Taschenstatistik. BFS, Neuchâtel 2020
- Höglinger, Dominic (et al.): Obsan Bericht 01/2022: Hör- und Sehbeeinträchtigungen in der Schweiz, Neuchâtel: Schweizerisches Gesundheitsobservatorium (Obsan) 2022, S. 6
- Obsan Bericht, S. 17
- Obsan Bericht, S. 39
- Johner-Kobi, Sylvie (et al.): SAMS - Studie zum Arbeitsleben von Menschen mit Sehbehinderung : Schlussbericht. Zürich 2015: ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
- Hille, Anina; (et al.): Studie zur Arbeitsmarktsituation von gehörlosen und hörbehinderten Personen in der Schweiz. Luzern 2020: Hochschule Luzern
- Committee on the Rights of Persons with Disabilities: Concluding observations on the initial report of Switzerland. CRPD/C/CHE/CO/1, April 2022
- Scheibler, Eliane; Hess-Klein, Caroline: Aktualisierter Schattenbericht. Bericht der Zivilgesellschaft anlässlich des ersten Staatenberichtsverfahrens vor dem UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Bern 2022: Editions Weblaw, S. 74