Arbeitskräftemangel bei Arbeitslosigkeit – wo liegt das Problem?
Der wirtschaftliche Aufschwung hat nach der Corona-Krise rasch an Fahrt gewonnen. Im vierten Quartal 2021 erreichte die Beschäftigung mit über 4 Millionen Vollzeitstellen einen neuen Rekordstand. Noch nie gab es in der Schweiz so viele Stellen wie aktuell. Trotzdem sind weiterhin über 200'000 Personen auf den RAV als stellensuchend gemeldet. Wie ist das möglich und was könnte getan werden?
Erstaunlich schnell änderte sich die Diskussion in der Arbeitswelt anfangs dieses Jahres: Noch im April 2020 befanden sich 1.36 Millionen Arbeitnehmende in Kurzarbeit und noch im Januar 2021 waren 261'000 Personen als stellensuchend auf einem RAV registriert. Nun – wenige Monate später – dominiert vor allem ein Begriff: der Fach- oder Arbeitskräftemangel. Die möglichen Ursachen dafür sind schnell gefunden: Die rekordhohe Anzahl an Stellen trifft auf ein demographisch bedingt ausgedünntes Arbeitskräfteangebot. Die Schweiz als Einwanderungsland hat zudem vor allem für deutsche Arbeitnehmende an Attraktivität verloren. Die Folge davon sind nicht nur ein Fachkräftemangel bei Ärzten, Ingenieurinnen und Informatikern. Nun fehlen die Arbeitskräfte zunehmend auch bei der Papierherstellung, im Metallbau und im Gastgewerbe (UZH - Stellenmarkt-Monitor). Irritierend bei dieser Geschichte ist vor allem eines: auf den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) sind aktuell 202'000 Stellensuchende (Stand: Februar 2022) registriert. Angesichts des akuten Arbeitskräftemangels scheint dies eine erstaunlich hohe Zahl.
So hat das Beschäftigungswachstum die Arbeitslosigkeit reduziert
Die Beschäftigung ist je nach Branche und Beruf in den letzten zwölf Monaten sehr unterschiedlich stark gewachsen. Die aktuellsten vorhandenen Daten zeigen, dass die Beschäftigung vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen, in der öffentlichen Verwaltung, im Sozialwesen, sowie im Gast- und Baugewerbe zugenommen hat. Im gleichen Zeitraum hat sich die Anzahl der auf dem RAV registrierten Stellensuchenden sehr unterschiedlich entwickelt. Im Gesundheitswesen war der Stellenzuwachs mit praktisch keinem Rückgang der Stellensuchenden verbunden. Anders sieht es im Bau- und Gastgewerbe aus. In der Gastronomie war der Rückgang der Stellensuchenden etwa gleich hoch wie das Beschäftigungswachstum. Gleiches gilt für das Baugewerbe, aber auch für die Informatik.
Grafik 1: Beschäftigungswachstum und Rückgang der Anzahl an registrierten Stellensuchenden – Daten: Beschäftigungsstatistik, Amstat, 4. Q. 2020-4.Q.2021
Lesehilfe: im Gesundheitswesen wurde zwischen den vierten Quartal 2020 und dem vierten Quartal 2021 13'400 neue Stellen geschaffen. In diesem Zeitraum verliessen 700 Stellensuchende aus dem Gesundheitswesen ein RAV. Bei den Post-, Kurier- und Expressdiensten sank die Anzahl an Stellen im gleichen Zeitraum um 4'300, die Anzahl an Stellensuchenden nahm als Folge davon leicht zu um 120.
Das Gesundheitswesen scheint sein Personal also hauptsächlich ab Ausbildung oder aus dem Ausland zu rekrutieren und nicht über die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren. Bei einem Beschäftigungswachstum innerhalb eines Jahres um 13'400 Stellen reduzierte sich die Anzahl an registrierten Stellensuchenden um nur gerade 700. Im Januar 2022 waren weiterhin 7'600 Personen aus dem Gesundheitswesen als stellensuchend auf einem RAV registriert.
Ob im Bau- und Gastgewerbe oder der Informatik tatsächlich vor allem über das RAV rekrutiert wurde, lässt sich aus den Daten nicht ableiten. Es ist gut möglich, dass ein Teil der Stellensuchenden, etwa aus dem Gastgewerbe, in einer anderen Branche eine Stelle gefunden hat. In jedem Fall ist die Auswahl an Stellensuchenden für Betriebe aus dem Bau- und Gastgewerbe besonders gross. Im vierten Quartal 2021 lag die Anzahl an Stellensuchenden aus dem Gast- wie auch aus dem Baugewerbe bei jeweils 20'000 Personen. Das sind 8.5% (Gastgewerbe) bis 5.5% (Baugewerbe) der Beschäftigten aus der jeweiligen Branche. Falls also tatsächlich ein Arbeitskräftemangel im Gast- und Baugewerbe besteht, dann besteht Klärungsbedarf.
Ist die Beschäftigungssituation tatsächlich so gut?
Das Nebeneinander von Arbeitslosigkeit und Arbeitskräftemangel deutet darauf hin, dass neben der Sucharbeitslosigkeit auch in der Arbeitslosenversicherung strukturelle Arbeitslosigkeit besteht. Das heisst, es gibt zwar ausreichend offene Arbeitsstellen, diese passen aber nicht zum Ausbildungsprofil der Stellensuchenden. Die Stellensuchenden haben somit einen Beruf erlernt, bei dem die Nachfrage aktuell nicht besonders hoch oder sogar rückläufig ist. Dies ist nach der Pandemie beispielsweise bei den Kurieren der Fall. Oder sie haben zwar Erfahrungen in einer boomenden Branche, weisen aber nicht das richtige Berufsprofil oder entsprechende Qualifikationen für die offenen Stellen auf. Sie haben beispielsweise eine Informatikerlehre abgeschlossen, werden aber nicht als Programmierer angestellt. Das Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit kann sowohl zwischen den Branchen als auch innerhalb einer Branche bestehen. Ein Blick auf die Verteilung der offenen Stellen und die Stellensuchenden bringt etwas mehr Licht ins Dunkel. In Grafik 2 werden die registrierten Stellensuchenden den offenen Stellen gegenübergestellt. Wenn es gleich viele offene Stellen wie Stellensuchende gibt, dann liegt der Punkt einer Branche auf der schwarzen 90-Grad-Linie. Wenn es weniger Stellen als Stellensuchende in einer Branche gibt, dann liegen die Punkte über der Linie. Es wird deutlich, dass einzig in der Informatik die Anzahl an offenen Stellen grösser ist als die Anzahl an Stellensuchenden. Sogar wenn keine einzige Person aus der Informatik auf einem RAV wäre, könnten somit nicht alle freien Stellen besetzt werden. Der Fachkräftemangel ist hier unbestritten und offensichtlich.
Ganz anders sieht es allerdings bei verschiedenen anderen Branchen aus, insbesondere im Gast- und Baugewerbe, im Handel, sowie bei Industrie und Handwerk. In allen diesen Branchen ist die Anzahl an offenen Stellen deutlich geringer als die Anzahl an Stellensuchenden. Im Gastgewerbe kommen auf 5’000 offene Stellen 20'000 Stellensuchende. Sogar wenn jede Stellensuchende auf eine offene Stelle passen würde, blieben wir immer noch 15'000 Stellensuchende. Fast gleich zeigt sich die Situation im Baugewerbe, vergleichbar ist sie auch im Gross- und Detailhandel. Wir haben somit zu wenige Stellen in diesen Branchen und gleichzeitig vermutlich ein Problem mit struktureller Arbeitslosigkeit innerhalb dieser Branchen. Dies zumindest, falls die Rückmeldungen aus der Branche stimmen. Die offenen Stellen können teilweise nicht besetzt werden, obwohl es eine beträchtliche Anzahl an stellensuchenden Personen aus der Branche gibt. Unabhängig davon wären aber auch nicht genügend Stellen vorhanden.
Zugegeben, die Daten zu den Branchen sind ziemlich grobe Indikatoren. Eine Köchin und ein Kellner beispielsweise haben, obwohl beide im Gastgewerbe tätig sind, ziemlich unterschiedliche Berufsprofile. Trotzdem macht die Diagnose «Arbeitskräftemangel» zumindest im Gastgewerbe, im Gross- und Detailhandel oder im Baugewerbe stutzig. Falls es diesen Arbeitskräftemangel tatsächlich gibt, dann haben wir in diesen Branchen ein massives Aus- und Weiterbildungsproblem.
Grafik 2: Registrierte Stellensuchende und offene Stellen, Daten: Beschäftigungsstatistik, Amstat, 4. Quartal 2021
Lesehilfe: Aus der Branche Handel (Gross- und Detailhandel) sind aktuell 28'500 Personen als Stellensuchende auf einem RAV gemeldet. Es bestehen gemäss der Beschäftigungsstatistik in dieser Branche 11'600 offene Stellen. Würden alle Stellen besetzt, wären folglich immer noch 16'900 Personen stellensuchend.
Eine Aufgabe für die Arbeitslosenversicherung
Aus- und Weiterbildungen sind ein Teil der sozialpartnerschaftlichen Vereinbarungen. Im Gastgewerbe beispielsweise sieht der Gesamtarbeitsvertrag drei bezahlte Weiterbildungstage pro Jahr vor, sofern das Arbeitsverhältnis mindestens sechs Monate gedauert hat. Fraglich ist aber, ob bei der hohen Anzahl an Stellensuchenden nicht auch die Arbeitslosenversicherung ein Interesse daran hat, die Weiterbildung ernsthaft zu fördern. Bisher begnügt sich diese damit, eine breite Palette an arbeitsmarktlichen Massnahmen anzubieten. Die weitergehende Finanzierung von Weiterbildungen ist hingegen nicht vorgesehen. Die vorhergehende Analyse zeigt aber, dass die Senkung der Arbeitslosigkeit – neben einer anhaltenden konjunkturellen Erholung – auch zusätzlicher Anstrengungen in diesem Bereich bedarf. Der demographische und technologische Wandel führt dazu, dass dies nicht nur im Interesse der Arbeitnehmenden, sondern auch der Arbeitgebenden ist, allen voran in den gewerblichen Branchen.