«Die Frauensession ist ein Mosaikstein im grossen Bild»
Am 29. und 30. Oktober 2021 fand im Bundeshaus die zweite Frauensession statt. 246 Frauen aus der ganzen Schweiz debattierten über Frauen- und Gleichstellungsthemen. Ein Interview.
Lisa Schädel: Linda, du warst Teil der Frauensession 2021, was hat dich am meisten beeindruckt?
Linda Rosenkranz: Ganz klar die Stimmung. 246 Frauen von links bis rechts, im Alter von 17 bis 82 Jahren, und alle hatten dasselbe Ziel: Die Stellung der Frauen zu verbessern. Das ist gross. Selbstverständlich hatten nicht alle Frauen dieselben Vorstellung davon, wie dieses Ziel zu erreichen ist, aber das Ziel war für alle dasselbe.
Was hat dir weniger gefallen?
Es passt mir eigentlich nicht, dass Frauen mit Frauen über Gleichstellung diskutieren, da fehlt mir die andere Hälfte der Gesellschaft. Für mich ist klar, dass Gleichstellung nur gemeinsam erreicht werden kann. Aber die Frauensession ist ein Mosaikstein im grossen Bild – einer von vielen Schritten, die es jetzt braucht auf dem Weg zur Gleichstellung.
Wofür brauchte es denn eine zweite Frauensession?
Diese Frauensession hat historischen Charakter und bettet sich in den aktuellen Flow der Gleichstellung ein. Dieser ist seit dem Frauenstreik da und lässt sich nicht mehr einfach wegschieben. Ich hoffe sehr, dass er die kommenden politischen Diskussionen und natürlich auch die nächsten eidgenössischen Wahlen 2023 beeinflussen wird.
Für was hast du dich an der Frauensession besonders eingesetzt?
Travail.Suisse hat ja im Juni 2020 zusammen mit seinen Mitgliedsverbänden das Projekt RESPECT8-3.CH lanciert. Das Projekt ist die gewerkschaftliche Antwort auf das revidierte Gleichstellungsgesetz. Das Parlament hat mit seinem Gesetz gegen Lohndiskriminierung zwar einen guten Ansatz erarbeitet, ihn aber während der Debatte zum zahnlosen Papiertiger verkommen lassen.
Wieso Papiertiger?
Erstens müssen nur Unternehmen mit mehr als 100 Angestellten eine Lohnanalyse durchführen. Zweitens gibt es weder Kontrollen, ob die Analysen auch wirklich gemacht werden, geschweige denn Sanktionen für die Unternehmen, die kneifen oder gar Lohndiskriminierung ausweisen. Das ist unglaublich schade und eine verpasste Chance. Hier setzt RESPECT8-3.CH an: Unternehmen, die sich vorbildlich verhalten, können sich auf einer weissen Liste registrieren und so zu Vorreitern der Lohngleichheit werden. Eine schwarze Liste wird folgen und diejenigen Unternehmen auflisten, die sich nicht an die Vorgaben des Gesetzes halten.
Lohndiskriminierung war aber nicht das einzige Thema, für das du dich engagiert hast?
Nein, ich habe mich in der Kommission auch dafür eingesetzt, dass die unbezahlte Care-Arbeit, die überwiegend von Frauen geleistet wird, auch in der zweiten Säule abgebildet wird. Der Gender Pension Gap in der zweiten Säule beträgt heute 60 Prozent, das heisst, pensionierte Frauen haben monatlich rund 1’700 Franken weniger auf ihrem Konto als Männer – alleine von der zweiten Säule. Überhaupt ist die Altersvorsorge ein grosses Thema, denn leider ist Altersarmut in der reichen Schweiz nach wie vor ein Thema und sie ist weiblich. Aktuell scheint weder die Reform der AHV noch diejenige des BVG eine faire Lösung für Wenigverdienende – also vor allem für Frauen zu bieten. Das darf einfach nicht sein.
Welche Rolle spielen die Gewerkschaften für die Gleichstellung?
Eine absolut zentrale, denn Gleichstellung ist gerade für die Arbeitnehmenden ein wichtiges Thema. Und zwar für Frauen wie für Männer. Der Vaterschaftsurlaub ist ein gutes Beispiel, ohne die Gewerkschaften gäbe es ihn nicht. Und Vereinbarkeitsprobleme entstehen vor allem bei der Arbeit. Wie schaffen wir es als Eltern, Kinderbetreuung und Erwerbsarbeit unter einen Hut zu bringen? Wie decken wir 13 Wochen Schulferien mit 4 Wochen Ferien bei der Arbeit ab? Wie organisieren wir es, wenn unsere Eltern plötzlich pflege- oder betreuungsbedürftig werden? Wie schaffen wir Rahmenbedingungen, die die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit mit allen anderen Lebensbereichen ermöglichen? Und wie schaffen wir eine faire Erwerbskarriere – mit Teilzeitmöglichkeiten, mit fairen sozialen Netzen und Altersabsicherung? Diese Gleichstellungsthemen sind Teil der DNA von Gewerkschaften.
Weshalb sollte jemand deiner Meinung nach Gewerkschaftsmitglied werden? Die Zeiten von Streiks sind doch vorbei…
Gewerkschaften sind die wichtigsten sozialen Bewegungen überhaupt. Ihr Problem ist es, dass sie ihre Arbeit nicht sehr gut sichtbar machen können. Erhält jemand mehr als vier Wochen Ferien, hat er oder sie Weiterbildungstage zugute, oder bekommt ein Halbtax bezahlt? Wenn ja, profitiert diese Person höchstwahrscheinlich von einem Gesamtarbeitsvertrag. Diese Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebenden sind zentraler Bestandteil des sozialen Friedens in der Schweiz, das sollte man nicht vergessen.
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Das ist die Frauensession
1991 fand die erste Frauensession statt. Am 29. und 30. Oktober 2021 nahmen zum zweiten Mal 246 Frauen aus allen Regionen der Schweiz während zwei Tagen im Nationalratssaal Platz und diskutierten über die dringlichsten Frauenanliegen. Die Frauensession kommt einer echten Parlamentssitzung so nahe wie nur möglich: die Anwesenden stimmten über Anträge aus den vorberatenden Kommissionen ab und überreichten die Motionen anschliessend dem Parlament. Sie werden nun in Form von Petitionen in die zuständigen Kommissionen eingespiesen.