Wer wird Millionär? Armut trotz Arbeit im Schatten der Finanzmarkteuphorie
Begeistert haben in den vergangenen Tagen verschiedene Medien über neue Bitcoin-Millionäre berichtet. Während diese gesellschaftlich nutzlose Spekulation finanziellen Reichtum schafft, blieben bereits 2019 über 150‘000 Personen in der Schweiz trotz Arbeit arm. Die Pandemie hat diese Entwicklung verschärft. Menschliche Bedürfnisse und ökonomische Realität driften zunehmend auseinander. Massnahmen sind dringend notwendig.
Bitcoin-Millionäre scheinen ein neues Lieblingsthema mancher Medienschaffender zu sein. Reich werden mit einer nutzlosen Tätigkeit scheint eine gewisse Faszination auszuüben. Würden nicht im Schatten der Finanzmarkteuphorie zu viele Leute trotz Arbeit kein ausreichendes Einkommen erzielen, man könnte glatt darüber lachen.
Arm trotz Arbeit – bereits vor der Pandemie ein Problem
Bereits im Jahr vor Ausbruch der Pandemie waren in der Schweiz 155‘000 Personen arm trotz Arbeit, so genannte Working Poor. Ein grosser Teil der betroffenen Personen waren Angestellte mit einer Berufsausbildung, häufig erwerbstätig in einem kleinen Betrieb. Oft wird argumentiert, dass fehlende Bildung und Scheidung die wichtigsten Ursachen für diese Form der Armut sind. Das ist allerdings stark verkürzt. Zwar liegt die Wahrscheinlichkeit, trotz Arbeit von Armut betroffen zu sein, bei Personen ohne nachobligatorische Ausbildung deutlich über dem Durchschnitt, allerdings wiesen über drei Viertel der Working Poor mindestens einen Berufsabschluss auf. Ähnliches gilt für alleinerziehende Elternteile. Sie weisen zwar eine doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit als der Durchschnitt auf, arm zu sein trotz Arbeit, auch sie machten 2019 aber nicht einmal 10% der Working Poor aus. Diese häufig geäusserten Ursachen, trotz Arbeit von Armut betroffen zu sein, greifen also ganz klar zu kurz.
Die Pandemie trifft tiefe Einkommen am stärksten
Erste Untersuchungen zur Einkommenssituation während der Pandemie (KOF 2021) zeigen deutlich, dass vor allem tiefe Einkommen mit Einkommensverlusten zu kämpfen haben und dadurch die Einkommensungleichheit während der Pandemie zugenommen hat. Gleiches gilt vermutlich für die Anzahl der Working Poor. Zwar dürfte bei den ganz tiefen Einkommen die temporäre Erhöhung der Kurzarbeitsentschädigungen etwas Luft verschafft haben, diese bleibt aber weiterhin und zunehmend sehr dünn. Die Einkommenslücken müssen hier zwingend über weitere konjunkturstabilisierende Massnahmen über die Kurzarbeit hinaus geschlossen werden. Direkte Zahlungen an tiefe Einkommen müssen dafür als kurzfristige Option geprüft werden.
Unterbeschäftigung kein neues, aber wachsendes Problem
Aktuell sind etwa 240‘000 Personen von Erwerbslosigkeit betroffen und 400‘000 Personen befinden sich in Kurzarbeit. Die Verlängerung der Kurzarbeit ist somit absolut notwendig. Für die Working Poor zeigt sich aber bereits seit Längerem ein weiteres Problem, nämlich zu geringe Teilzeitanstellungen. 7.5% der Erwerbstätigen in der Schweiz möchten gerne mehr Stunden arbeiten, können dies aber nicht. Dies betrifft 370‘000 Personen. Diese Unterbeschäftigung hat in den letzten 10 Jahren stetig zugenommen und führt zu schmerzhaften Einschnitten bei den Einkommen. Die Pandemie hat dieses Problem noch weiter verschärft, wie die Schweizerische Arbeitskräfteerhebung zeigt. Besonders stark sind Frauen von Unterbeschäftigung betroffen. Im Jahr 2019 waren über 11% der erwerbstätigen Frauen unterbeschäftigt, während die Unterbeschäftigung bei den Männern mit 3.5% deutlich weniger ausgeprägt war. Beschäftigungsstabilisierende Massnahmen müssen deshalb auch darauf abzielen, diese Unterbeschäftigung – welche schon seit Längerem ein wachsendes Problem darstellt – zu reduzieren.
Krankenkassenprämien und Mieten schon vor der Pandemie drückend hoch
Dass die Haushaltsbudgets mit tiefen Einkommen und Angehörige des unteren Mittelstands schon vor der Pandemie unter Druck standen, zeigt sich anhand ihrer Ausgaben. Unter dem Strich bleibt am Monatsende nichts übrig. Ersparnisse sind nicht möglich, im Gegenteil kann ein Teil der betroffenen Personen die Ausgaben nur durch staatliche Transfers oder Schulden bewältigen. Grund dafür sind nicht zuletzt die beiden Ausgabeposten Krankenklassenprämien und Wohnen. Es sind vor allem diese beiden Budgetposten, welche seit Ausbruch der Finanzkrise vor über zehn Jahren die Haushaltsbudgets immer stärker belasten. Während ein durchschnittlicher Haushalt für die Grundversicherung der Krankenkasse 6% des Bruttoeinkommens einsetzten muss, sind es bei armen Haushalten und Haushalten des unteren Mittelstands 10% bis 14%. Hohe Einkommen hingegen geben weniger als vier Prozent für die Grundversicherung der Krankenkasse aus (BfS Haushaltsbudgeterhebung). Die beiden Initiativen zur Dämpfung der Gesundheitskosten (Die Mitte) und für eine prozentuale Beschränkung der Ausgaben (SP) sind somit dringlicher denn je. Schwer auf den Haushaltsbudgets liegen auch die Wohnkosten. Sie betragen in den armen Haushalten und im unteren Mittelstand zwischen 20% und 32%. Bei reichen Haushalten hingegen lediglich 10%. Auch hier hat die Tiefzinspolitik mit steigenden Mieten und sinkenden Hypothekarzinsen vor allem den hohen Einkommen und Wohneigentümer*innen geholfen, während die Mieterinnen und Mieter insgesamt deutlich mehr bezahlen mussten. Die Pandemie hat daran nichts geändert. Im Gegenteil haben das Auseinanderdriften von Finanzmarkt und realer wirtschaftlicher Tätigkeit diese Entwicklung sogar weiter vorangetrieben. Als Alternative zur Niedrigzinspolitik bietet sich deshalb die von Travail.Suisse seit längerem vorgeschlagene Frankensteuer an. Sie könnte über eine teilweise Normalisierung der Zinspolitik mittelfristig auch Druck von den Mieten wegnehmen.
Vermögensbesitzer im Hoch
Die Entwicklung der Vermögenseinkünfte und Mieteinnahmen war tatsächlich in den letzten zehn Jahren auffällig. Eigentlich müssten die wegfallenden Zinsen zu geringeren Einnahmen aus Vermögen führen. Die Haushaltsbudgeterhebung des Bundesamts für Statistik zeigt aber genau das Gegenteil. Die durchschnittlichen monatlichen Einnahmen aus Vermögen bei den Haushalten lagen in den Jahren 2009–2011 bei 370 Franken pro Haushalt und 3.9% des Haushaltseinkommens. In den nachfolgenden Jahren stiegen diese bis auf 445 Franken beziehungsweise 4.5% des Haushaltseinkommens in den Jahren 2015 bis 2018. Die wegfallenden Zinsen wurden folglich vor allem über höhere Dividenden und Mieteinnahmen überkompensiert. Natürlich sind diese Vermögenseinkünfte sehr ungleich verteilt. Die 20% der Haushalte mit den höchsten Einkommen erzielen durchschnittlich 1'400 Franken pro Monat oder 7% ihres Einkommens über Vermögenseinkünfte. Bei den restlichen 80% der Haushalte betragen die Einkünfte aus Vermögen und Vermietung zwischen 100 und 300 Franken pro Monat. Entsprechend steigt die Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen auch in der Schweiz. Die Tiefzinspolitik hat somit nicht dazu geführt, dass Vermögensbesitzer weniger verdienen und für das gleiche Einkommen mehr arbeiten müssen. Vielmehr ist genau das Gegenteil der Fall.
Arbeit anerkennen – Vermögen besteuern
Der alte freisinnige Schlachtruf – Arbeit muss sich lohnen – erhält durch die Entwicklungen auf den Finanzmärkten und bei den Vermögen in den letzten Jahren eine wichtige und zunehmend dringliche Bedeutung. Nur nicht im Sinne der Freisinngen, oder vielleicht doch? Wenn sich Arbeit lohnen soll, dann muss sich die Besteuerung – beispielsweise zur Finanzierung des demographischen Wandels (u.a. AHV, Gesundheitskosten) – zunehmend auf die Vermögen, die Erbschaften und die Erträge auf Finanztransaktionen fokussieren, wie dies nicht nur Travail.Suisse fordert. Der Vorschlag von Beat Rieder (Die Mitte) für eine Finanztransaktionssteuer ist deshalb absolut zu begrüssen. Dies wäre einer von vielen notwendigen Schritten, um die Haushaltsbudgets der unteren und mittleren Schichten zu entlasten und um Arbeit besser anzuerkennen. Und es wäre nicht zuletzt ein guter Anfang für ein Fitnessprogramm für die Schweizer Wirtschaft der richtigen Art.