Die Kündigungsinitiative wäre ein dreifaches Eigentor für die Arbeitnehmenden
Die Kündigungsinitiative löst keine bestehenden Probleme. Sie greift aber die flankierenden Massnahmen an und schwächt damit den Schutz von Löhnen und Arbeitsbedingungen. Doch damit nicht genug: Sie beendigt den bilateralen Weg zwischen der Schweiz und der EU und verzögert die wirtschaftliche Erholung nach der Corona-Krise. Damit verursacht die SVP-Initiative zusätzliche Stellenverluste, die niemand wollen kann. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, lehnt die Initiative entschieden ab.
Die SVP will mit ihrer Initiative „Für eine massvolle Zuwanderung (Begrenzungsinitiative)“ das Ende der Personenfreizügigkeit. So verlangt sie vom Bundesrat, das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU zu kündigen, falls es der Schweiz nicht gelingt, das Abkommen innert Jahresfrist auf dem Verhandlungsweg ausser Kraft zu setzen. Da die Personenfreizügigkeit zusammen mit dem freien Warenverkehr, dem freien Kapital- und Zahlungsverkehr und der Dienstleistungsfreiheit zu den vier Grundfreiheiten der EU gehört, ist eine einvernehmliche Lösung ohne Kündigung äusserst unwahrscheinlich. Im Kern ist der Name Begrenzungsinitiative daher irreführend; es handelt sich vielmehr um eine Kündigungsinitiative.
Die Personenfreizügigkeit gehört zum Paket der Bilateralen Verträge I. Zu diesem gehören auch das Abkommen zum Abbau von technischen Handelshemmnissen, das Landwirtschaftsabkommen, das Landverkehrsabkommen, das Luftverkehrsabkommen, das Abkommen zum öffentlichen Beschaffungswesen und das Forschungsabkommen. Die Bilateralen I sind mit einer „Guillotine-Klausel“ versehen. Das bedeutet, dass diese Abkommen nicht einzeln gekündigt werden können. Und: Bei Kündigung eines Abkommens werden sechs Monate später alle anderen Abkommen automatisch auch hinfällig. Damit wären 18 Monate nach Annahme der Initiative nicht nur das Personenfreizügigkeitsabkommen, sondern sämtliche Abkommen der Bilateralen I ausser Kraft, was das Ende des seit 2002 erfolgreichen bilateralen Weges zwischen der Schweiz und der Europäischen Union bedeuten würde.
Die Kündigung der bilateralen Verträge wäre aber ein dreifaches Eigentor für die Arbeitnehmenden:
Erstes Eigentor: Wegfall der Bilateralen erschwert die Überwindung der wirtschaftlichen Corona-Krise
Die Corona-Krise hat einen weltwirtschaftlichen Einbruch von historischem Ausmass verursacht. Für die Schweiz hat sich die Lage nach der Wiedereröffnung etwas entschärft, dennoch prognostiziert das SECO für das laufende Jahr einen Einbruch des BIP um 6.2 Prozent. Dies ist selbst im Vergleich mit der Finanzkrise von vor gut 10 Jahren ein deutlich markanterer Einbruch (vgl. Grafik 1).
Die offene und stark auf den Export ausgerichtete Volkswirtschaft der Schweiz gerät alleine durch die weltwirtschaftliche Lage unter Druck. Die KOF schätzt den Anteil des Wirtschaftseinbruchs aufgrund der aussenwirtschaftlichen Abhängigkeit auf rund 60% (d.h. rund 4 Prozentpunkte des prognostizierten BIP-Rückgangs 2020 sind faktisch nicht beeinflussbar). Damit droht sich die Lage auf dem Arbeitsmarkt über die nächsten Monate kontinuierlich zu verschlechtern. Die konjunkturellen Probleme werden sich in zunehmendem Stellenabbau, vermehrten Unternehmenskonkursen und übervorsichtigem Stellenaufbau manifestieren. Etliche Prognosen rechnen auf dem Höhepunkt mit Arbeitslosenquoten von deutlich über 4 Prozent, was bedeutet, dass es in der Schweiz dannzumal deutlich über 200‘000 Arbeitslose geben dürfte.
In einer solchen Krisensituation zusätzlich den bewährten Zugang zum europäischen Wirtschafts- und Handelsraum aufs Spiel zu setzen, ist hochriskant und würde die wirtschaftliche Erholung nach einer überstandenen Corona-Krise zusätzlich verzögern und unnötige Stellenverluste verursachen. Dies gilt umso mehr seit der Einigung innerhalb der Europäischen Union die Konjunktur im Euroraum über einen Corona-Wiederaufbaufonds in der Grössenordnung von rund 750 Milliarden Euro zu stützen.
Zweites Eigentor: Begrenzungsinitiative begrenzt den Schutz von Löhnen und Arbeitsbedingungen
Zusammen mit der Personenfreizügigkeit wurden in der Schweiz auch die flankierenden Massnahmen eingeführt. Sie garantieren, dass in der Schweiz Schweizer Löhne bezahlt werden und Schweizer Arbeitsbedingungen gelten. Damit kann Lohn- und Sozialdumping zwar nicht in jedem Fall verhindert werden, aber zumindest gibt es Instrumente, dieses aufzudecken und zu sanktionieren. Im früheren Kontingentsystem war Lohndumping ausgeprägt vorhanden, aber es fehlten die Möglichkeiten, es auch ans Licht zu bringen. Die flankierenden Massnahmen machten und machen den Arbeitsmarkt transparenter und helfen mit, das Unterbieten von Löhnen und Arbeitsbedingungen zu verhindern.
Personenfreizügigkeit und flankierende Massnahmen sind aber nicht nur thematisch, sondern auch juristisch und politisch miteinander verknüpft. Ein Angriff auf die Personenfreizügigkeit ist deshalb immer ein Angriff auf die flankierenden Massnahmen und damit auf Schweizer Löhne und Arbeitsbedingungen. Wer die Personenfreizügigkeit nicht will, will auch keine flankierenden Massnahmen und steht damit für eine Schweiz ohne Lohnschutz. In dieser Schweiz stehen Tür und Tor offen für Lohndumping und unsichere Arbeitsbedingungen und Aufenthaltsrechte. Das betrifft bei weitem nicht nur ausländische Arbeitskräfte, sondern alle, die in der Schweiz leben und arbeiten.
Es ist bezeichnend, dass die SVP bereits 2018 ein Positionspapier veröffentlicht hat, indem klar „die Aufhebung des Personenfreizügigkeitsabkommens und den Rückbau der flankierenden Massnahmen“ gefordert wird.
Drittes Eigentor: Nicht die Kündigung, sondern der Kampf gegen die negativen Auswirkungen ist der Königsweg
Nicht die Personenfreizügigkeit fördert die Zuwanderung, sondern die Wirtschaftslage, das Rekrutierungsverhalten der Wirtschaft und die demografische Entwicklung. Mit anderen Worten: Auch vor der Personenfreizügigkeit wurden jeweils meistens so viele Bewilligungen ausgestellt, wie die Wirtschaft nachgefragt hat – der weitergehende Bedarf an Arbeitskräften wurde mit verbreiteter Schwarzarbeit abgedeckt. Gleichzeitig haben das Kontingentsystem und das alte Saisonnier-Statut zu massiven Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt und damit zu Lohn- und Sozialdumping geführt.
Ja, Zuwanderung kann zu zusätzlichem Druck auf dem Arbeitsmarkt führen. Um diesen Druck einzudämmen, gibt es die flankierenden Massnahmen. Zusätzlich konnten weitere wichtige Instrumente zur gerechteren Verteilung der Wohlstandsrendite eingeführt werden. Dazu gehören die Stellenmeldepflicht, Standortbestimmungen für ältere Arbeitnehmende und die Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose. Mit den geplanten kostenlosen Standortbestimmungen, Potenzialanalysen und Laufbahnberatungen sowie den spezifischen Arbeitsmarktintegrationsmassnahmen für Erwachsene ab 40 Jahren werden präventiv und unmittelbar die Arbeitsmarktfähigkeit und die Chancen der Erwerbstätigen für die zweite Hälfte des Erwerbslebens gestärkt. Die Stellenmeldepflicht verschafft den beim RAV gemeldeten Personen einen Informationsvorsprung bezüglich der freien Stellen. Dies erhöht die Chancen von diskriminierten Stellensuchenden auf einen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt. Für den Fall einer Aussteuerung von älteren Arbeitnehmenden wird mit den Überbrückungsleistungen die Fallhöhe für ältere Arbeitslose verringert und insbesondere der Gang zur Sozialhilfe nach einem langen Erwerbsleben verhindert. Wiederum bezeichnend, dass die SVP sich im Parlament geschlossen gegen die Einführung von solchen Überbrückungsleistungen ausgesprochen hat und Exponenten der Partei gar eine Referendum dagegen lanciert haben. Als Folge steht dieses wichtige Schutzinstrument jetzt in der wirtschaftlichen Corona-Krise noch nicht zur Verfügung. Im Zuge des Konjunktureinbruchs werden somit etliche ältere Arbeitnehmenden ihren Job verlieren und nach der Aussteuerung unnötigerweise den Gang auf die Sozialdienste antreten müssen und so einen unwürdigen Abgang aus dem Erwerbsleben erfahren.
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