Mit dem Fachkräftemangel und der digitalen Transformation stehen Wirtschaft und Gesellschaft vor gewaltigen Herausforderungen. Auf bildungspolitischer Ebene zielen die bisherigen Anstrengungen, ihnen zu begegnen, fast ausschliesslich auf die Qualifizierung der Arbeitnehmenden über formale Abschlüsse. Ein solcher Ansatz zielt aber an all denen vorbei, die schlicht nicht über die Voraussetzungen für einen formalen Berufsabschluss verfügen, die sich beruflich innerhalb einer nützlichen Frist neu orientieren müssen oder keine Bildung auf der tertiären Ebene anstreben. Für sie könnte ein Branchenzertifikat das richtige Bildungsziel sein.
Verschiedene Organisationen der Arbeitswelt haben sich zusammengefunden1, um über die „Anerkennung von Branchenzertifikaten auf dem Arbeitsmarkt“2 mehr Klarheit zu bekommen. Die Studie zu diesem Thema liegt nun vor. Sie zeigt auf, unter welchen Bedingungen Branchenzertifikate zu einem wichtigen Element werden können, um die Kompetenzbedürfnisse einer Branche abzudecken. Sie gibt Hinweise, wie Branchenzertifikate die Arbeitsmarktnähe der Ausbildungen sichern, wie die Qualität gewährleistet werden kann, wie das System flexibel bleibt und wie Aufwand und Ertrag in einem guten Verhältnis zueinander stehen. Die Studie hilft damit nicht nur den analysierten Branchen, ihr eigenes Branchenzertifikat besser einzuschätzen. Sie kann auch andere Branchen dazu motivieren, eigene Zertifikate einzuführen.
Motivation für andere Branchen
Der wachsende Fachkräftemangel verlangt von den Branchen, ihr Potential optimal auszunützen. Der alleinige Blick auf das formale Bildungssystem genügt nicht. Zu fragen ist auch, wie über das Weiterbildungssystem mit Hilfe des Branchenzertifikats dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden kann. Die analysierten Branchenzertifikate zeigen, welches Potential in ihnen liegt:
Das Branchenzertifikat Pflegehelfer/in des Schweizerischen Roten Kreuzes SRK gibt es seit 1959. Insgesamt wurden über 100’000 Zertifikate vergeben. Pro Jahr werden gegenwärtig rund 4500 Zertifikate ausgestellt.
Das SVEB-Zertifikat gibt es seit 1996. Insgesamt wurden 50’151 ausgestellt. Allein 2018 konnten 2709 neue Zertifikate übergeben werden. Der Verband Schweizerischer Elektro-Installationsfirmen VSEI konnte seit 2018 450 Branchenzertifikate „Elektro-Teamleiter/in“ ausstellen. Rund 250 Personen erreichen jährlich das Branchenzertifikat „Fertigungsspezialist/in VSSM/FRECEM“ des Verbandes des Schweizerischen Schreinermeister und Möbelfabrikanten.
Transparenz im Weiterbildungsbereich
Branchenzertifikate helfen nicht nur, dem Fachkräftemangel entgegenzutreten, sondern auch Transparenz in die Weiterbildungslandschaft zu bringen. Viele Weiterbildungsabschlüsse sind für den Arbeitgeber nicht einschätzbar und haben daher für die Arbeitnehmenden auch nur einen begrenzten Wert auf dem Arbeitsmarkt. Anders ist es mit den Branchenzertifikaten. Indem eine nationale Branche die über die Ausbildung zu erreichenden Kompetenzen definiert und die Bildungsanbieter überprüft, sind die Abschlüsse für die Arbeitgeber aussagekräftig und für die Arbeitnehmenden auf dem Arbeitsmarkt hilfreich
Für weitere Informationen:
Bruno Weber-Gobet, Leiter Bildungspolitik Travail.Suisse, Ko-Leiter der Steuergruppe der Studie
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fn. 1 Schweizerischer Verband für Weiterbildung SVEB, Schweizerisches Rotes Kreuz SRK, Verband Schweizerischer Elektro-Installationsfirmen VSEI, Verband des Schweizerischen Schreinermeister und Möbelfabrikanten VSSM, Branche Bewegung und Gesundheitsförderung, Travail.Suisse, Schweizerischer Gewerbeverband sgv, Centre Patronal.
2 https://alice.ch/fileadmin/Dokumente/Themen/Forschung/190527_SVEB_ABA-S…