Das Potenzial älterer Arbeitnehmender rückt vermehrt in den Fokus der Diskussionen, hauptsächlich aus folgenden Gründen: Erstens besteht seit Jahren ein Geburtendefizit, weshalb mehr Arbeitskräfte mit Wohnsitz in der Schweiz in Pension gehen als neu in die Arbeitswelt eintreten. Das wird auch künftig so bleiben. Zweitens schränkt die angenommene Masseneinwanderungsinitiative die Rekrutierung ausländischer Arbeitskräfte massiv ein und drittens leiden verschiedene Berufssparten (Technik, Gesundheit, Bau…) bereits heute unter einem Fachkräftemangel, der sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen dürfte.
Trotz dieser Ausgangslage trennen sich viele Arbeitgeber von älteren Mitarbeitenden, bevor diese das Rentenalter erreichen, oder sie stellen kaum ältere Bewerberinnen und Bewerber ein. Ein aktueller Bericht der OECD zeigt immerhin, dass unser Land in dieser Hinsicht vergleichsweise ansprechend abschneidet – dass aber noch Verbesserungspotenzial besteht.
Im internationalen Vergleich liegt nämlich die Schweiz mit einer Beschäftigungsquote von 70,5% bei den 55- bis 64-Jährigen auf dem 5. Rang der OECD-Länder. Allerdings arbeiten sehr viele Frauen nur Teilzeit, und über 50-jährige Erwerbslose werden häufig zu Langzeitarbeitslosen, die keine Stelle mehr finden, womit die Zahl der Ausgesteuerten steigt. Dieses Problem betrifft vor allem Personen ohne berufliche Grundbildung oder mit einer Ausbildung, die auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gefragt ist.
Dequalifizierung verhindern, Beschäftigungsaussichten verbessern
Der Schluss, dass zu viele über 50-Jährige von der Arbeitswelt ausgeschlossen sind, drängt sich besonders auf, wenn man sich vor Augen hält, dass verschiedene Kreise eine Anhebung des Rentenalters fordern, dass die Lebenserwartung steigt und dass ältere Arbeitskräfte ein brachliegendes Potenzial zur Bekämpfung des Fachkräftemangels darstellen. Dass sie häufig Absagen auf Bewerbungen erhalten, hat verschiedene Gründe wie etwa höhere Lohnabgaben, das Vorurteil einer sinkenden Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter, hauptsächlich aber berufliche Qualifikationen, die nicht mehr dem aktuellen Bedarf entsprechen.
Deshalb braucht es Massnahmen, die eine Dequalifizierung von älteren Arbeitnehmenden verhindern und deren Beschäftigungsaussichten verbessern.
Wenn wir diese Herausforderung meistern, profitieren sowohl die Arbeitnehmenden, indem sie bis zum Pensionsalter erwerbstätig bleiben können, als auch die Unternehmen, weil sie das Potenzial der älteren Arbeitnehmenden besser nutzen können. Der Bundesrat schätzt dieses Potenzial aktuell auf über 93’000 Vollzeitäquivalente.
Eine wesentliche Voraussetzung zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen älterer Arbeitnehmender besteht darin, ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Kompetenzen im Rahmen gezielter, auf sie zugeschnittener Weiterbildungen auf den neuesten Stand zu bringen oder neue Kompetenzen zu erwerben. Laut seinem Bericht zur Fachkräfteinitiative will der Bundesrat «Anreize zur Erwerbstätigkeit in den Systemen der Altersvorsorge schaffen», die derzeit revidiert werden. Die Regierung will ausserdem «gute Voraussetzungen zur Erwerbstätigkeit bis zur Pensionierung und darüber hinaus» schaffen – doch der Bericht enthält leider keine einzige konkrete Massnahme! Selbst wenn es gelingt, gewisse Hürden abzubauen, die der Anstellung älterer Arbeitnehmender im Weg stehen, gilt es auch zu beachten, dass sie ihre Stelle nur behalten oder eine neue finden können, wenn sie über die vom heutigen Arbeitsmarkt verlangten Kompetenzen verfügen. Die schweizerische Bildungspolitik sieht aber keinerlei spezifische Massnahmen für ältere Arbeitnehmende vor.
Ältere Arbeitnehmende gezielt fördern
Deshalb setzen wir uns für Massnahmen ein, die für Arbeitnehmende ab einem gewissen Alter Folgendes gewährleisten:
• Die Chancen steigen, im Arbeitsmarkt zu verbleiben.
• Die Gefahr der Dequalifizierung sinkt, und es werden Strategien zum berufsbegleitenden Erwerb neuer Qualifikationen entwickelt.
• Es steht ein Bildungsangebot zur Verfügung, das auf das Alter und die Erfahrung der Betroffenen abgestimmt ist.
• Ältere Arbeitnehmende können das Rüstzeug für die Aufgaben erwerben, die sie auf dem Arbeitsmarkt erfüllen sollen.
• Für ältere Stellensuchende verbessern sich die Beschäftigungsaussichten.
Konkret fordert Travail.Suisse, dass Politik und Arbeitgeber Massnahmen folgender Art ergreifen:
• Erwachsenen in der Mitte ihres Berufslebens Zugang zu einer Laufbahnberatung bieten. Aufgrund einer Kompetenzbilanz und einer Potenzialanalyse muss die Laufbahnberatung den Arbeitnehmenden helfen, sinnvolle Weiterbildungen zu planen, die eine Dequalifizierung verhindern oder den Erwerb neuer Kompetenzen ermöglichen. Arbeitgeber und Arbeitnehmende sollten solche Dienstleistungen vermehrt in Anspruch nehmen, und die Behörden (von Bund und Kantonen) müssen den Zugang für Erwachsene erleichtern.
• Für ältere Arbeitnehmende eine echte Weiterbildungspolitik entwickeln. Das neue Weiterbildungsgesetz muss die Voraussetzungen für «lebenslanges Lernen» schaffen. Derzeit absolvieren zwar 63% der Wohnbevölkerung im Alter von 25- bis 64 Jahren eine Weiterbildung, hinter dieser Zahl verbergen sich jedoch enorme Unterschiede je nach Ausbildungsniveau: Fast 80% der Personen mit Tertiärausbildung bilden sich weiter, aber lediglich 30% der Personen, die keine Ausbildung der Sekundarstufe 2 besitzen. Deshalb braucht es spezielle Massnahmen zur Förderung der Weiterbildung von weniger qualifizierten Arbeitskräften, bei denen die Gefahr grösser ist, dass sie arbeitslos werden. Diese Arbeitnehmenden müssen gezielte finanzielle Unterstützung erhalten, um die beruflichen Kompetenzen zu erwerben, die sie benötigen, um sich bis zur Pensionierung in der Arbeitswelt behaupten zu können.
• Die berufliche Wiedereingliederung optimieren. Personen, die sich vorübergehend aus dem Berufsleben zurückziehen, insbesondere aus familiären Gründen, haben ein hohes Risiko für eine Dequalifizierung und müssen spezifische Weiterbildungen absolvieren, damit der Wiedereinstieg gelingt. Das Berufsbildungsgesetz (BBG) sieht in Artikel 32 Absatz 2 Buchstabe b vor, dass der Bund den Wiedereinstieg von Personen fördert, die ihre Berufstätigkeit vorübergehend eingeschränkt oder aufgegeben haben. Bisher konnten diese Personen jedoch nie materielle Unterstützung in Anspruch nehmen, und der Bundesrat hat verschiedene parlamentarische Vorstösse abgelehnt, die in diese Richtung zielten. Es ist an der Zeit, dass sich dies ändert und die Betroffenen, vorwiegend Frauen, spezifische Unterstützung im Rahmen eines umfassenden, vom Bund zu erarbeitenden Wiedereingliederungskonzepts in Anspruch nehmen können.
• Den Erwerb von Diplomen der höheren Berufsbildung (Fachausweise, Meister) bei über 40-Jährigen fördern, insbesondere durch Ausbildungsstipendien. Die Berufsbildungspartner auf Bundes- und Kantonsebene müssen einen ernst zu nehmenden Aktionsplan erarbeiten, der es möglichst vielen älteren Arbeitnehmenden mit einem EFZ ermöglicht, eine höhere Berufsbildung zu erwerben, denn diese ist Garant für gute Beschäftigungschancen und Karrieremöglichkeiten.
In den kommenden Wochen werden mehrere parlamentarische Vorstösse eingereicht, die fordern, ältere Arbeitnehmende besser zu berücksichtigen und dafür zu sorgen, dass sie bis zum Pensionsalter erwerbstätig sein können. Bleibt zu hoffen, dass der Bundesrat diese Vorstösse positiv aufnehmen und seine guten Absichten konkretisieren wird – und dass die Arbeitgeber künftig vermehrt erkennen, welches Potenzial ältere Arbeitnehmende zur Bekämpfung des Fachkräftemangels bieten!