Die Verankerung der Gewerkschaftsfreiheit und des Streikrechts in der Bundesverfassung gewährleistet allein noch nicht, dass diese Rechte in der Praxis wirklich zum Tragen kommen. Davon zeugen zahlreiche missbräuchliche Kündigungen von ArbeitnehmervertreterInnen und -vertretern in den vergangenen Jahren sowie vor Kurzem die Entlassung der Streikenden im Neuenburger Spital «La Providence». Deshalb ist es Zeit für rechtliche Schritte, die garantieren, dass die Arbeitnehmenden in der Schweiz ihre Gewerkschaftsrechte tatsächlich ausüben können. Die Sozialpartnerschaft wird daraus gestärkt hervorgehen – mit einem besseren Arbeitsklima, das nicht nur im Interesse der Arbeitnehmenden, sondern auch der Unternehmen ist.
Falls in dieser Sache nichts unternommen wird und die aktuellen Blockaden bestehen bleiben, wird das soziale Klima in unserem Land darunter leiden. Die Sozialpartnerschaft kann langfristig nicht funktionieren, wenn die Arbeitnehmenden demotiviert werden und sogar Angst haben, ihre Stelle zu verlieren, weil sie die ihnen rechtmässig zustehenden Rechte einfordern. Die Sozialpartnerschaft ist aber ein zentrales Element für die Qualität des Werkplatzes Schweiz, auch im Hinblick auf Investitionen ausländischer Unternehmen. Deshalb braucht es Massnahmen, die langfristig garantieren, dass diese Partnerschaft funktioniert.
Die revidierte Bundesverfassung von 1999 anerkennt mit Artikel 28 zur Koalitionsfreiheit das Streikrecht unter gewissen Bedingungen (wenn der Streik Arbeitsbeziehungen betrifft und wenn keine Verpflichtungen entgegenstehen, den Arbeitsfrieden zu wahren oder Schlichtungsverhandlungen zu führen).
Im Fall des Spitals „La Providence“ waren diese Punkte erfüllt, da der Streik die Arbeitsbeziehungen betraf, nach der einseitigen Auflösung des GAV Santé 21 erfolgte und die Verhandlungen vor der Eidgenössischen Einigungsstelle zur Beilegung von kollektiven Arbeitsstreitigkeiten gescheitert waren.
Geltendes Recht als Einladung zur Kündigung
Obwohl der Streik verfassungs- und rechtskonform war, entliess das Spital „La Providence“ die Streikenden. Dieses Beispiel veranschaulicht den eklatanten Widerspruch zwischen Theorie (mit der Verankerung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts in der Verfassung) und Praxis: Die Entlassung der Streikenden war in diesem Fall eindeutig missbräuchlich. Das Obligationenrecht sieht jedoch bei missbräuchlicher Kündigung lediglich eine Entschädigung von höchstens sechs Monatslöhnen vor (häufig aber nur rund drei Monatslöhne). Das ist geradezu eine Einladung an die Unternehmen, sich des Personals zu entledigen, das im Interesse aller Arbeitnehmenden für die Einhaltung der arbeitsrechtlichen Bestimmungen kämpft.
Hier ist auch darauf hinzuweisen, dass der Ausschuss für Gewerkschaftsfreiheit der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) die Entlassung von Arbeitnehmenden, die sich an einem rechtmässigen Streik beteiligen, als schwerwiegende arbeitsrechtliche Benachteiligung wertet, die gegen das von der Schweiz ratifizierte Übereinkommen Nr. 98 über das Recht zu Kollektivverhandlungen verstösst. Nach Ansicht des IAO-Ausschusses für Gewerkschaftsfreiheit verbieten es die Grundsätze zur Gewerkschaftsfreiheit den Unternehmen, Arbeitnehmende zu entlassen oder nicht wieder einzustellen, weil sich diese an einem Streik beteiligt haben.
Durch den Fall der Streikenden im Spital „La Providence“ könnte der zweite Teil der Gewerkschaftsrechte in den Unternehmen vergessen gehen: Personen, die Arbeitnehmende vertreten, müssen sich für bessere Arbeitsbedingungen oder andere Mitarbeitende einsetzen können, ohne befürchten zu müssen, dass sie dies mit einer Entlassung bezahlen. Denn es ist äusserst beunruhigend, dass es im Laufe des letzten Jahrzehnts zahlreiche Fälle von missbräuchlichen Kündigungen gegen Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter gab, meistens unter dem Vorwand von Restrukturierungen oder wirtschaftlichen Gründen.
Im Fall von Tamedia beispielweise bejahte das Arbeitsgericht der Stadt Zürich die missbräuchliche Kündigung des Präsidenten der Personalkommission im Sinne von Artikel 336 Absatz 2 Buchstabe b OR. Es befand, dass die vom Arbeitgeber geltend gemachten wirtschaftlichen Gründe nicht stichhaltig seien. Die betroffene Person wurde aus wirtschaftlichen Gründen entlassen – unmittelbar vor dem Beginn der Verhandlungen über Massnahmen zur Abfederung der Folgen von Massenentlassungen. Ungeachtet der Schwere dieses Falls verordnete das Gericht lediglich eine Entschädigung in der Höhe von drei Monatslöhnen – ein lächerlicher Betrag, der für Grosskonzerne wie Tamedia in keiner Weise abschreckend wirkt.
Nach einer Klage des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes im Jahr 2003 richtete die IAO eine Empfehlung an die Schweizer Regierung und forderte sie auf, einen Kündigungsschutz nach der Art des Gleichstellungsgesetzes von Frau und Mann vorzusehen, mit der Möglichkeit der Wiedereinstellung von Gewerkschaftsvertreterinnen und -vertretern, die Opfer gewerkschaftsfeindlicher Kündigungen werden.
Bundesrat schlägt sich auf die Arbeitgeberseite…
Der Bundesrat wird nur bedingt auf diese Empfehlung eingehen. So sah der Entwurf für die Teilrevision des OR (Sanktionen bei missbräuchlicher oder ungerechtfertigter Kündigung), der am 1. Oktober 2010 in die Vernehmlassung ging, bei missbräuchlicher und ungerechtfertigter Kündigung keine Wiedereinstellung vor, sondern lediglich eine Erhöhung der Maximalentschädigung von sechs auf zwölf Monatslöhne. Er enthielt aber zumindest die Möglichkeit, in den Gesamtarbeitsverträgen von den zwingenden Bestimmungen des OR abzuweichen, was ein Schritt in die richtige Richtung gewesen wäre. Es ist bedauerlich, dass der Bundesrat am Ende der Vernehmlassung aufgrund des Widerstands der Arbeitgeberseite gegenüber den vorgeschlagenen Massnahmen auf die Veröffentlichung einer Botschaft verzichtete und das Projekt sistierte.
Er hat beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) und beim Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement (EVD; heute Eidgenössisches Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF) lediglich eine vertiefte Studie über die Grundlagen des Kündigungsschutzes für Arbeitnehmervertreterinnen und –vertreter und ihre Rahmenbedingungen in Auftrag gegeben. Diese Studie soll als Grundlage dienen, um im Rahmen der Tripartiten Kommission für Angelegenheiten der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) weiter nach einer Lösung für den Schutz vor missbräuchlicher Kündigung aus gewerkschaftsfeindlichen Gründen zu suchen.
…und zaudert
Viel ist nicht von dieser Studie zu erwarten, ausser dass sie bestätigen dürfte, was längst bekannt ist: Dass für Personalvertreterinnen und -vertreter und Arbeitnehmende, die sich an einem rechtmässigen Streik beteiligen, kein Kündigungsschutz besteht, der diesen Namen verdient. Eine solche Studie ist deshalb eher als Verzögerungsmanöver zu interpretieren.
Es ist dringend nötig, dafür zu sorgen, dass die Gewerkschaftsfreiheit auch in der Praxis gilt und Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter oder Arbeitnehmende deswegen keine Sanktionen befürchten müssen. Denn die Sozialpartnerschaft, die als gewichtiger Vorteil des Werkplatzes Schweiz gilt, wird ihrer Substanz beraubt, wenn Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter sowie Streikende dermassen eingeschüchtert werden, dass sie die Arbeitsbedingungen anderer Mitarbeitender nicht mehr zu verteidigen wagen.
Flexibilität des Arbeitsmarkts wird nicht infrage gestellt
Ein besserer Schutz vor missbräuchlicher Kündigung ist mit dem flexiblen Schweizer Arbeitsmarkt vollkommen vereinbar. Er wird bewirken, dass die Arbeitnehmervertretungen eher auf Augenhöhe mit den Unternehmen diskutieren und echte Verhandlungen führen können. Dadurch käme es seltener zu Konflikten, welche ausser Kontrolle geraten und die Arbeitnehmenden demotivieren. Eine Stärkung des Kündigungsschutzes ist zudem im Interesse der Unternehmen, weil er präventiv wirkt. Denn diese werden eher zu Verhandlungen bereit sein, wenn sie Entlassungen teurer zu stehen kommen. Und Verhandlungen, bei denen es darum geht, akzeptable Lösungen für beide Parteien zu finden, sind im Interesse sowohl der Arbeitnehmenden als auch der Unternehmen. Die Arbeitnehmenden werden dadurch mit mehr Motivation arbeiten, und die Unternehmen profitieren vom besseren Arbeitsklima. In einem solchen Umfeld werden seltener Situationen entstehen, die zu Streiks führen.
Zur Verbesserung des Kündigungsschutzes für Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter sowie für Personen, die sich an einem rechtmässigen Streik beteiligen, ist neben den Massnahmen im Entwurf zur OR-Revision auch vorzusehen, dass missbräuchliche Kündigungen von Personen, die Arbeitnehmende vertreten oder sich an einem rechtmässigen Streik beteiligen, nichtig sind. Damit würde sich die besonders umstrittene Frage der Wiedereinstellung gar nicht mehr stellen.
Wichtiges IAO-Übereinkommen ratifizieren
Schliesslich sollte die Schweiz das Übereinkommen Nr. 135 über Schutz und Erleichterungen für Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter im Betrieb ratifizieren. Diese von der Mehrheit der europäischen Länder ratifizierte Übereinkommen verlangt in Artikel 1, dass Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter in Unternehmen wirkungsvoll gegen jegliche Benachteiligung einschliesslich Kündigung, die aufgrund ihrer Stellung oder Betätigung als Arbeitnehmervertreter oder aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Gewerkschaft oder ihrer gewerkschaftlichen Betätigung erfolgt, wirksam zu schützen sind, sofern sie die bestehenden Gesetze oder Gesamtarbeitsverträge oder die anderen gemeinsam vereinbarten Regeln einhalten.