Die Schweiz beginnt, mit der EU über die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien zu verhandeln. Neben den Übergangsfristen sind für Travail.Suisse, den unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, vor allem weitere innenpolitische Massnahmen wichtig. Insbesondere braucht es verbindliche Mindestlöhne in Tieflohnbranchen und die Förderung der einheimischen Arbeitnehmenden. Nur so kann der wachsenden Skepsis der Bevölkerung gegenüber der anhaltenden Zuwanderung wirkungsvoll begegnet werden.
Kroatien wird Mitte 2013 der EU beitreten. Im Verlauf des ersten Halbjahres beginnen deshalb zwischen der Schweiz und der EU die Verhandlungen über die Ausdehnung des Personenfreizügigkeitsabkommens auf Kroatien.
Möglichst lange Übergangsfristen
Wichtig bei diesen Verhandlungen ist das Erreichen eines möglichst langen Übergangsregimes. Travail.Suisse erwartet eine mindestens gleichwertige Lösung wie jene, die bei den beiden Ausdehnungsverfahren mit der EU-8 und der EU-2 galt. Das bedeutet eine schrittweise Öffnung des Arbeitsmarktes mit einer Übergangsfrist von mindestens sieben Jahren mit ansteigenden Kontingenten für die Staatsangehörigen von Kroatien, der Beibehaltung des Inländervorrangs und der vorgängigen Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen. Anschliessend soll bei hoher Einwanderung während mindestens drei Jahren die Ventilklausel anwendbar sein.
Konkrete innenpolitische Massnahmen
Für Travail.Suisse besteht folgender weiterer Handlungsbedarf:
Verbindliche Einstiegs- und Mindestlöhne in Tieflohnbranchen
Ein grosses Problem besteht heute in Tieflohnbranchen, wo keine verbindlichen Mindestlöhne bestehen. Dort nimmt der Lohndruck aufgrund der Personenfreizügigkeit, insbesondere auch in Grenzregionen, stark zu. Die heute bereits bestehenden flankierenden Massnahmen kranken oft daran, dass die Frage des Missbrauchs schwierig zu klären ist, weil es keinen Mindestlohn gibt. Um wirkungsvoll gegen Lohndumping vorgehen zu können, braucht es flächendeckend branchenspezifische oder regionale Mindestlöhne. Einige parlamentarische Vorstösse haben diese Problematik aufgenommen (Postulate Meier-Schatz, de Buman, Romano und Vogler). Sie fordern den Bundesrat auf, mögliche Massnahmen zur flächendeckenden Einführung von Einstiegs- und Mindestlöhnen in Tieflohnbranchen zu prüfen. Dies kann beispielsweise über die erleichterte Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen und den Erlass von Normalarbeitsverträgen durch den Bund und die Kantone geschehen. Travail.Suisse erwartet vom Parlament, dass es diesen erfolgversprechenden Vorstössen Folge leistet.
Beschäftigung von inländischen Erwerbspersonen fördern
Ein Teil der Zuwanderung ist auch darauf zurück zu führen, dass die bereits in der Schweiz anwesenden Arbeitnehmenden zu wenig gefördert werden. Um diese Problematik anzugehen, braucht es erstens eine Offensive in der Nachholbildung für wenig qualifizierte Arbeitnehmende, zweitens eine massive Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und drittens eine klare Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Weiterbildungschancen der älteren Arbeitnehmenden. Travail.Suisse fordert zudem Anreize für Unternehmen, damit diese Erwerbspersonen aus dem inländischen Arbeitskräftepool beschäftigen, anstatt neue Arbeitskräfte aus dem Ausland zu rekrutieren. Prüfenswert ist eine Gebühr für Unternehmen, die Arbeitnehmende aus dem Ausland an-stellen. Der Ertrag dieser Gebühr soll dazu dienen, wenig qualifizierten Arbeitnehmenden einen Bildungsabschluss zu verschaffen und für ältere Arbeitnehmende den Zugang zur Weiterbildung zu vereinfachen.
Investitionen in Infrastruktur und Abkehr von Tiefsteuerpolitik
Damit sich eine weitere Zuwanderung nicht immer dramatischer auf die Lebensqualität in der Schweiz auswirkt, muss die Politik heute die Voraussetzungen für die 9-Millionen-Schweiz von morgen schaffen. Dazu sind Massnahmen im Infrastrukturbereich (Strassen, öffentlicher Verkehr, Schulen, Gesundheitswesen, Betreuung von Kindern und älteren Menschen etc.) und Wohnungsbereich (genügend und bezahlbarer Wohnraum) nötig. Die Investitionskosten dafür bewegen sich im Umfang von mehreren Dutzend Milliarden Franken und werden auch zu steigenden laufenden Kosten der öffentlichen Hand führen. Travail.Suisse fordert deshalb eine Abkehr von der bisherigen Tiefsteuerpolitik. Steuersenkungen stehen im Widerspruch zur Weiterführung der bilateralen Verträge und gefährden den Wohlstand in der Schweiz.
Früchte des Wachstums sollen allen zugute kommen
Es ist zu erwarten, dass die Stimmbevölkerung über die Erweiterung des Freizügigkeitsabkommens auf Kroatien entscheiden wird. Ohne einen Übergang zu einer Politik, die die Früchte des Wachstums einer breiteren Bevölkerungsschicht zukommen lässt als bisher und die die drängendsten Probleme des Bevölkerungswachstums wirksam anpackt, ist kaum mit der Zustimmung der Arbeitnehmenden zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien zu rechnen. Bei der aktuellen Stimmungslage der Stimmbevölkerung ist der Ausgang dieses Urnenganges deshalb mehr als unsicher. Bei einer Ablehnung der Ausdehnung der Personefreizügigkeit auf Kroatien besteht die Gefahr, dass durch die sogenannte «Guillotine-Klausel» die Bilateralen I wegfallen. Dies wiederum hätte gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt und würde auch den Wohlstand und die Lebensqualität in der Schweiz gefährden, notabene zwei wichtige Trümpfe der Schweiz im internationalen Standortwettbewerb. Damit die Schweiz im internationalen Standortwettbewerb nachhaltig gestärkt werden kann, braucht es zur Vertrauensbildung starke innenpolitische Lösungen.