Das Hauptproblem der demografischen Alterung ist nicht die Finanzierung der Sozialwerke, sondern der zukünftige Arbeitskräftemangel. Travail.Suisse fordert die Politik zum Handeln auf. Im Zentrum steht die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Vereinbarkeitsinfrastruktur, damit in der Schweiz auch in Zukunft genügend Arbeitnehmende zur Befriedigung grundlegender gesellschaftlicher Bedürfnisse zur Verfügung stehen.
Wird in der Schweiz von der Alterung der Bevölkerung gesprochen, denkt man automatisch an die Altersvorsorge und sorgt sich über deren Finanzierungsmöglichkeiten in der Zukunft. Diese Sichtweise greift zu kurz. Das Hauptproblem der Demografie ist nicht die Finanzierung der Sozialwerke, sondern der Arbeitsmarkt, genauer gesagt die fehlenden Arbeitskräfte.
Im Jahr 2030 fehlen auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt 400’000 Fachkräfte
Gemäss einer im Auftrag von Travail.Suisse erstellten Studie des Büro BASS vom Jahr 2011 werden in der Schweiz im Jahr 2030 bis zu 400’000 Arbeitnehmende fehlen. Im Jahr 2020 wird es an den Volksschulen rund 30’000 Lehrer zu wenig haben, im Bereich der Pflege und Therapie werden per 2030 190’000 Personen fehlen, aber auch Tausende von Handwerker/innen und Ingenieur/innen, Lokomotivführer/innen, Postautofahrer/innen, Polizist/innen usw. wird es brauchen. Diese Arbeitkräfte benötigen wir, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, aber auch um grundlegende gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen: beispielsweise die Betreuung und Pflege älterer Personen, die Bildung unserer Schulkinder, die Wahrung der öffentlichen Sicherheit oder den Betrieb des öffentlichen Transportes. Diese Leistungen sind notwendig, damit unser Land weiterhin eine hohe Standortattraktivität und Stabilität aufweist. Der Politik und der Wirtschaft bleibt nicht mehr viel Zeit zum Handeln.
Arbeitsbedingungen und Vereinbarkeitsinfrastruktur verbessern
Travail.Suisse hat folgende Achsen identifiziert, die angegangen werden müssen, um dem drohenden Arbeitskräftemangel in nächster Zukunft wirkungsvoll zu begegnen.
Ältere Arbeitskräfte bis zum ordentlichen Pensionsalter im Erwerbsleben behalten
Es bringt nichts, das Rentenalter erhöhen zu wollen. Fakt ist, dass heute nur noch 55 Prozent aller 63-Jährigen im Erwerbsleben stehen. Rund 40 Prozent aller Frühpensionierungen geschehen aus gesundheitlichen Gründen, viele ältere Erwerbstätige landen in der Invalidität oder Arbeitslosigkeit. Eine Rentenaltererhöhung wäre demnach für viele Menschen nichts anderes als eine kalte Rentensenkung. In Volksabstimmungen finden solche Anliegen in der älter werdenden Bevölkerung denn auch kaum mehr Mehrheiten. Wer stimmt schon freiwillig einer Rentenkürzung zu?
Ziel muss sein, die Arbeitnehmenden bis zum ordentlichen Pensionsalter im Arbeitsmarkt zu behalten. Um dies zu erreichen, müssen über das ganze Erwerbsleben hinweg die Arbeitsbedingungen verbessert werden. Falsche Anreize, die dazu führen, dass sich Gutverdienende frühzeitig aus dem Erwerbsleben verabschieden, sind zu korrigieren. Die Unternehmen sind gefordert, innovative Arbeitsmodelle für ältere Erwerbstätige anzubieten.
Verbesserte Vereinbarkeitsinfrastruktur hilft, die Frauenerwerbstätigkeit zu erhöhen
Es wird immer wieder vom „letzten Arbeitskräftereservoir, das es anzuzapfen gilt“ gesprochen – gemeint sind die Frauen. Dabei wird ausser Acht gelassen, dass die Frauen bereits heute eine hohe Erwerbsbeteiligung aufweisen, und Mütter zehnmal mehr Teilzeit leisten als Väter, aber doppelt soviel Hausarbeit. Die Forderungen, die an die Frauen gestellt werden, sind immens und kaum erfüllbar: Erstens sollen sie ihre Erwerbsbeteiligung und ihren Beschäftigungsgrad erhöhen, um den Arbeitskräftemangel zu lindern. Zweitens sollen sie Mütter werden und Kinder erziehen, um den Geburtenrückgang zu bremsen, und drittens sollen sie als Töchter ihre älter werdenden (Schwieger-) Eltern betreuen und pflegen.
Ziel ist, dass das Projekt „Familie“ nicht mehr nur Frauen- und Privatsache bleibt. Dazu braucht es die Mitarbeit der Männer, sowie einen Ausbau der Service-Public-Familienleistungen. Konkret braucht es eine flächendeckende, zuverlässige und erschwingliche Vereinbarkeitsinfrastruktur, die es den Frauen ermöglicht, Erwerbstätigkeit und Beschäftigungsgrad zu erhöhen.
Auf ausländische Arbeitskräfte ist die Schweiz auch in Zukunft angewiesen
Die Schweiz ist bekanntlich ein Einwanderungsland und muss es als Antwort auf die demografische Alterung auf dem Arbeitsmarkt auch in Zukunft bleiben. Dabei darf nicht vergessen werden, dass wir zukünftig nicht mehr so einfach Arbeitskräfte aus dem EU-Raum rekrutieren können, denn unsere europäischen Nachbarstaaten haben mit den gleichen demografischen Problemen – sogar noch akzentuierter – zu kämpfen wie wir. Die Zuwanderung von Arbeitskräften aus dem EU-Raum wird sich in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich stärker auf die Zuwanderung aus Drittstaaten verschieben.
Ziel ist, dass die Schweiz auch in Zukunft für ausländische Arbeitskräfte attraktiv bleibt. Dafür muss sie ihre zentralen Standortfaktoren, insbesondere die hohe Lebensqualität, ihre politische Stabilität, die leistungsstarke Infrastruktur, das gute soziale Klima und die starke Kaufkraft erhalten. Die Schweiz wird, nebst höchstqualifizierten Arbeitnehmenden auch Fachkräfte im Bereich der Betreuung und Pflege brauchen. Dazu braucht es eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Löhne.
Investieren um den Strukturwandel erfolgreich zu meistern
Die demografische Entwicklung gleicht einem wirtschaftlichen Strukturwandel des Arbeitsmarktes, den es erfolgreich zu meistern gilt. Dazu braucht es sinnvolle Investitionen statt einfältige Sparprogramme. Wir müssen es fertig bringen, auch in zwanzig Jahren genügend und qualifizierte Arbeitskräfte zu haben, welche die grundlegenden gesellschaftlichen Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft befriedigen helfen.
Der Care-Bereich wird immer stärker wachsen, grosse Produktivitätssteigerungen sind jedoch nur begrenzt möglich. Kinderbetreuung oder Altenpflege, die sich gewissen Qualitätsstandards verpflichten, können nicht im grossen Stil rationalisiert und effizienzsteigernd gestaltet werden. Zudem dürfen die Löhne und die Arbeitsbedingungen im Care-Bereich nicht stagnieren oder sich sogar noch verschlechtern, sonst finden sich keine Arbeitnehmenden mehr, die bereit sind, diese Tätigkeiten zu verrichten. Es muss Aufgabe des neu zu definierenden Service public sein, dass diese Branche an Attraktivität gewinnt. Der Schlüssel dazu sind die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und gute Löhne, bezahlt durch die öffentliche Hand zum Wohle der ganzen alternden Gesellschaft.