Ist das Arbeitsrecht nicht bereit für die Digitalisierung?
Ist das Arbeitsgesetz aus der Zeit gefallen und nicht bereit für unsere Epoche der Digitalisierung? Unterscheidet sich der Schutz von Fabrikarbeitenden vom Schutz von Arbeitnehmenden im Homeoffice? Teilweise ja, jedoch doch viel weniger als derzeit häufig behauptet wird. Denn der Schutz der Gesundheit aller Arbeitnehmenden verlangt heute, genauso wie vor hundert Jahren, nach Ruhe, Erholung und der Möglichkeit für gemeinsame Aktivitäten ausserhalb der Arbeit. Das Arbeitsrecht braucht deshalb, um für die Digitalisierung fit zu sein, nicht mehr Flexibilität, sondern neue Formen der Umsetzung bewährter Schutzmechanismen.
Das Arbeitsgesetz kennt verschiedene zentrale Begriffe, welche den gesundheitlichen Schutz von Arbeitnehmenden sicherstellen sollen. Und es kennt unglaublich viel Flexibilität und zahlreiche Ausnahmen, welche diese Schutzbestimmungen zuungunsten der Arbeitnehmenden relativieren. Die aktuellen Liberalisierungsbestrebungen des Arbeitsgesetzes betreffen in der Regel dessen Kern und damit beispielsweise die Ruhezeit, den Zeitraum der Arbeitstätigkeit, die Arbeitszeit oder den arbeitsfreien Sonntag. Es zeigt sich, dass bei diesen zentralen Bestimmungen auch heute keine flexibleren Lösungen notwendig sind. Vielmehr verlangt die Digitalisierung nach einem neuen und angepassten Schutz für die Arbeitnehmenden.
Ruhezeit
Die im Arbeitsgesetz festgelegte Ruhezeit setzt die Zeit fest, in welcher nicht gearbeitet werden darf. Sie beträgt 11 aufeinanderfolgende Stunden und trägt der Tatsache Rechnung, dass Arbeit ohne Pause und regelmässige Erholung die Gesundheit gefährdet. Folglich ist sie in einer digitalisierten Arbeitswelt nicht minder wichtig als zu Zeiten der Industrialisierung. Tatsächlich wird sie aber vermehrt in Frage gestellt, weil die Arbeitstätigkeit auch von zu Hause aus für etwa 50% der Arbeitnehmenden in der Schweiz grundsätzlich möglich ist. Die teilweise einfachere Umgehung der Ruhezeit durch neue Technologien ist allerdings kein Argument gegen die Ruhezeit, sondern ein Warnhinweis, dass ihre Einhaltung und Kontrolle neu implementiert werden müssen, damit die Fürsorgepflicht der Arbeitgebenden weiterhin wahrgenommen werden kann. Die Risiken von arbeitsbedingtem Stress nehmen mit der Digitalisierung zu, weil die Abgrenzung zwischen Ruhe- und Arbeitszeit zu verschwimmen droht. Die Arbeitgebenden sind aufgrund ihrer Fürsorgepflicht jedoch dazu verpflichtet, für die Einhaltung der Ruhezeiten zu sorgen. Der Schutz der öffentlichen Gesundheit ist zentral und die Ruhezeit ein entscheidendes Element dafür. Somit besteht nicht im Arbeitsgesetz Handlungsbedarf, sondern vielmehr bei dessen Umsetzung und Kontrolle. Die Homeofficeregelungen zum können beispielsweise gemeinsam mit den Arbeitnehmenden oder ihrer Vertretung auf betrieblicher Ebene erarbeitet werden. Das Recht auf Nichterreichbarkeit oder die temporäre Sperrung von E-Mail-Zugängen während der Ruhezeit und der Ferien können dazu wichtige Hilfsmittel sein. Dies gilt auch im Falle einer «interessierten Selbstgefährdung» (1) wodurch beispielsweise eine mehr oder minder freiwillige Mailbearbeitung in den Ferien unterbunden werden kann. Das gebietet die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers und fordert das öffentliche Interesse am Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmenden.
Zeitraum der Tages- und Abendarbeit
Um fünf Uhr aufstehen und anschliessend arbeiten, um sieben Uhr den Kindern das Frühstück zubereiten, bis um 11.30 Uhr arbeiten, das Mittagessen kochen, um 13.30 wieder arbeiten, um 15 Uhr die Kinder von der Schule abholen und wenn sie im Bett sind, erneut von 20 bis 23 Uhr arbeiten. Dies erlaubt das Arbeitsgesetz heute nicht, weil der Zeitraum der Tages- und Nachtarbeit innerhalb von 14 Stunden liegen muss. Zudem würde die Person die Ruhezeiten von 11 aufeinanderfolgenden Stunden nicht einhalten. Beide Regelungen werden in Parlamentsdebatten aktuell kritisiert. Dass dies dem Schutz der Gesundheit abträglich ist, steht aber ausser Frage. Und, möchten wir tatsächlich so arbeiten? Das Arbeitsrecht ermöglicht bereits heute eine grosse Flexibilität bei der Festlegung der Zeiten in denen gearbeitet wird. Mit Blick auf den Gesundheitsschutz besteht somit auch beim Zeitraum der Arbeit kein Anpassungsbedarf.
Arbeitszeit und Ferienanspruch
Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf muss unter anderem über externe Betreuungsstrukturen, eine Reduktion der Wochenarbeitszeit oder einen grösseren Ferienanspruch gelöst werden, nicht über eine Flexibilisierung des Arbeitsgesetzes. Letzteres wäre in einem grob fahrlässigen Sinne gesundheitsgefährdend. Wer beim Arbeitsgesetz ansetzen will, der sollte sich einmal einen Vergleich der wöchentlichen Arbeitszeit und der Ferienansprüche innerhalb Europas zu Gemüte führen. Das Schweizer Arbeitsgesetz kennt heute eine Höchstarbeitszeit von 45 beziehungsweise 50 Stunden. Diese kann zudem mit maximal zwei Stunden Überzeit pro Tag bewilligungsfrei erhöht und durch Samstagsarbeit ergänzt werden. Damit weist die Schweiz gesetzlich weit höhere Höchstarbeitszeiten auf als andere wirtschaftlich erfolgreiche europäische Länder. Dies ist nicht mehr zeitgemäss, denn die Digitalisierung birgt neben Chancen auch bedeutende Risiken, welchen Rechnung getragen werden muss. Die Digitalisierung verdichtet die Arbeit, erhöht die ungewollten Arbeitsunterbrechungen, fördert neue Formen des Präsentismus und erhöht den Zeitdruck. (2) Die Folgen davon sind eine wachsende Arbeitsbelastung und zunehmender Stress. (3) Eine Anpassung des Arbeitsgesetzes muss deshalb zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmenden und für die Förderung der Gleichstellung die wöchentlichen Höchstarbeitszeiten reduzieren und die gesetzlichen Ferienansprüche im Obligationenrecht erhöhen. Der Zeitpunkt des Ferienbezugs wird heute zudem vom Arbeitgeber festgelegt, unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Arbeitnehmenden. Auch in dieser Frage gibt es Möglichkeiten zur Verbesserung der Vereinbarkeit, indem etwa gesetzliche Ferienansprüche bei arbeitstätigen Eltern während der Schulferien bezogen werden können.
Arbeitsfreier Sonntag
Die Digitalisierung ermöglicht für etwa die Hälfte der Arbeitnehmenden rein organisatorisch das Arbeiten auch am Sonntag. Weshalb sollte die Sonntagsarbeit deshalb nicht für alle Arbeitnehmenden erleichtert werden? Wieso nicht am Freitag bei Sonnenschein mit den Kindern spielen, dafür am regnerischen Sonntag das Protokoll der letzten Sitzung verfassen? Der Sonntag ist weit mehr als ein Tag der Erholung. Er ist für 90% der Arbeitnehmenden normalerweise kein Arbeitstag. Drei Viertel der Arbeitnehmenden arbeiten zudem nie am Sonntag. (4) Somit ist er der einzige Tag, welcher frei von wirtschaftlichen Zwecken gemeinsame Aktivitäten und Muse ermöglicht. Er ermöglicht somit eine gesellschaftliche Synchronisierung, welche durch die zunehmende Individualisierung und Entgrenzung von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Die Flexibilisierung bei der Sonntagsarbeit hätte somit weitreichende negative gesellschaftliche Konsequenzen und es besteht ein übergeordnetes Interesse daran, den Sonntag so weit wie nur möglich arbeitsfrei zu halten. (5)
Fazit
Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt zweifellos. Sie schafft neue Möglichkeiten, birgt aber auch Risiken. Letzteren muss begegnet werden. Dabei gibt es im Arbeitsgesetz und im Obligationenrecht durchaus Ansatzpunkte, welche einen besseren Schutz der Arbeitnehmenden garantieren können. Eine weitere Flexibilisierung eines bereits sehr flexiblen Gesetzes ist nicht nur nicht notwendig, sie würde vielmehr die Gesundheit der Arbeitnehmenden und den gesellschaftlichen Zusammenhalt weiter schwächen. Angesichts einer stetig wachsenden arbeitsbedingten Stressbelastung und zunehmender Einsamkeit (6) wäre dies zweifellos die falsche Antwort auf die Digitalisierung.
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Quellen:
(1) Krause A, C. Dorsemagen, J. Stadlinger, S. Baeriswil (20212): «Indirekte Steuerung und interessierte Selbstgefährdung: Ergebnisse aus Befragungen und Fallstudien, in: B. Badura, A. Ducki, H. Schröder, J. Klose, M. Meyer (Hrsg.): «Fehlzeitenreport 2012: Gesundheit in der flexiblen Arbeitswelt», Heidelberg.
(2) Dazu beispielsweise: Marsh E., E. Perez Vallejos, A. Spence (2022): «The digital workplace and its dark side: An integrative review», Computers in Human Behavior 128.
(3) Zum Beispiel Staatssekretariat für Wirtschaft (Hrsg.) (2020): «Arbeitsbedingungen und Gesundheit: Stress», Bern.
(4) Bundesamt für Statistik, Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (SAKE).
(5) Dazu: Weiler R. (Hrsg.) (1998): «Der Tag des Herrn – Kulturgeschichte des Sonntags», Wien/Köln/Weimar.
(6) Vgl. Bundesamt für statistik (2019), Schweizerische Gesundheitsbefragung: URL: Einsamkeitsgefühl in der ständigen Wohnbevölkerung ab 15 Jahren, nach Migrationsstatus und verschiedenen soziodemografischen Merkmalen - 2007, 2012, 2017 | Tabelle | Bundesamt für Statistik (admin.ch)