Stress: ein gesellschaftliches Problem
Wenige ökonomische Kennzahlen wachsen jedes Jahr so beständig wie jene zum arbeitsbedingten Stress. Die Diskussion rund um das Thema hat sich dabei stark verändert. Nicht die Verminderung von Stress ist zum zentralen Ziel geworden, sondern Stressmanagement und Selbstoptimierung. Das gesellschaftliche Problem wird auf diese Weise individualisiert. Damit verbunden sind vermehrte Angriffe auf das bereits sehr liberale schweizerische Arbeitsrecht. Es ist endlich an der Zeit, arbeitsbedingten Stress als gesellschaftliches Problem anzuerkennen und Gegenmassnahmen zu ergreifen.
Die jährliche Befragung von Arbeitnehmenden im Rahmen des «Barometer Gute Arbeit» von Travail.Suisse zeigt es unmissverständlich. Der Trend zu stetig mehr arbeitsbedingtem Stress ist ungebrochen. Im Jahr 2021 gaben 44% der Befragten an, dass sie oft oder sehr häufig bei der Arbeit gestresst sind. Im Jahr 2016 waren es noch 38%. Auch andere Studien bestätigen diese Entwicklung (1). Der arbeitsbedingte Stress steigt stetig, eine Trendumkehr ist nicht auszumachen.
Stressmanagement statt Stressreduktion
Wer heute den arbeitsbedingten Stress thematisiert, erhält im besten Fall Tipps zu Atemtechniken oder ein Kursangebot für Stressmanagement und Resilienzaufbau. Damit hat sich der Diskurs zum arbeitsbedingten Stress innerhalb weniger Jahrzehnte weitgehend von strukturellen Ursachen hin zu individuellen Lösungen verschoben (2). Das Ziel ist damit nicht die «Stressfreiheit, sondern ein adäquater Umgang mit dem normalen Ausnahmezustand» (Haller et. al. 2014). Nur, wo soll das enden? Wenn Resilienz, Selbstoptimierung und Stressmanagement die Antwort sind, dann kann der arbeitsbedingte Stress beliebig erhöht werden. Verantwortlich für den Umgang damit ist stets das Individuum, welches dies schafft oder auch nicht. Der «Entvergesellschaftung gesellschaftlicher Problemlagen» (Kury 2012, S. 297) (3) wird dadurch der Weg geebnet. Die Gefahr für die öffentliche Gesundheit, das gesellschaftliche Leben und die Lebensqualität jedes Einzelnen werden in der politischen Diskussion zunehmend ausgeblendet oder als veraltet gebrandmarkt. Die Diskussion um das Arbeitsgesetz ist nur ein Beispiel dafür.
Ein Blick in den unmittelbaren Werkzeugkasten
Die Ursachen für Stress bei Arbeitnehmenden sind vielfältig (4). Es lohnt sich deshalb zu fokussieren und einen Blick in den unmittelbaren etablierten Werkzeugkasten der Stressbekämpfung zu werfen. Fünf wichtige Begriffe tauchen dabei auf, welche alle mit dem Arbeitsgesetz verbunden sind: die Ruhezeit, die Planbarkeit, die Zeitsouveränität, die Arbeitszeit und die gesellschaftliche Synchronisierung. Sie sind alle für die Gesundheit in der gegenwärtigen Arbeitswelt zentral.
Ruhezeit
Die Ruhezeit legt die Zeit fest, in welcher nicht gearbeitet werden darf. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass Arbeit ohne Pause und regelmässige Erholung die Gesundheit gefährdet. Die Erkenntnis ist trivial und besteht seit langem. Die Erkenntnis der Bedeutung von Ruhe und Erholung und die gesundheitlichen Risiken, welche mit langen, aber auch atypischen Arbeitszeiten wie Nacht- und Wochenendarbeit einhergehen, sind bekannt und weitgehend unbestritten (5). Die Ruhezeit ist deshalb ein zentrales Element der Stressbekämpfung und des Gesundheitsschutzes.
Planbarkeit
Auch die Frage der Planbarkeit wird im Arbeitsgesetz geklärt. Sie war und ist in Berufen zentral, in welchen kurzfristige Schwankungen der Arbeitslast häufig auf Arbeitnehmende abgewälzt werden oder in denen in unterschiedlichen Schichten gearbeitet wird. Es ist kein Zufall, dass die Branchen, welche regelmässig die höchsten Werte bei der Stressbelastung aufweisen das Gesundheitswesen und das Gastgewerbe sind (6). Die Frage der Planbarkeit hat mit der zunehmenden Erwerbstätigkeit der Frauen in den letzten Jahrzehnten enorm an Bedeutung gewonnen. 87% der Frauen und 97% der Männer mit Kindern unter 15 Jahren gehen heute einer Erwerbstätigkeit nach. Die arbeitstätigen Eltern müssen somit nicht nur die bezahlte, sondern auch die familiäre Betreuungsarbeit planen können. Wer heute seine Arbeit nicht frühzeitig planen kann, der kann Beruf und elterliche Betreuungsaufgaben nicht verbinden, ohne permanent unter Stress zu stehen. Die Planbarkeit ist aber nicht nur für erwerbstätige Eltern bedeutend, sondern grundsätzlich zur regelmässigen Pflege menschlicher Beziehungen.
Zeitsouveränität
Die Souveränität über die Zeit ist ein mächtiges Instrument und ist hinsichtlich der Arbeitszeit ein zentraler Aspekt des Arbeitsrechts. Sie definiert die Zuständigkeit von Arbeitgebenden oder Arbeitnehmenden bei der Festlegung der Erbringung der Arbeitsleistung. Für die Frage, ob eine flexible Regelung im Sinne der Arbeitnehmenden oder der Arbeitgebenden ist, ist sie ein bedeutendes Kriterium. Der Begriff wird allerdings auf eine harte Probe gestellt, wenn die Arbeitsleistung nach Zielen definiert wird. Was nützt die Souveränität darüber zu jeder Zeit arbeiten oder nicht arbeiten zu können, wenn es so viel Arbeit gibt, dass sie nicht innerhalb der vorgesehenen Zeit erledigt werden kann? Flexibilität ist deshalb nur dann im Sinne der Arbeitnehmenden, wenn die Zeitsouveränität bei den Arbeitnehmenden liegt und gleichzeitig eingebettet ist in eine klar definierte und erfasste Arbeitszeit, eingehaltene Ruhezeiten, den freien Sonntag und eine weitgehende Planbarkeit der Arbeiten.
Arbeitszeit
Die Definition der Arbeitszeit ist eine zentrale Bedingung dafür, dass arbeitsbedingter Stress vermindert werden kann. Dafür muss die Arbeitszeit auch erfasst und kontrolliert werden. Interessant ist hier ein Blick auf unsere europäischen Nachbarn. In kaum einem europäischen Land arbeiten so viele Arbeitnehmende (50%) mehr als 40 Stunden in der Woche wie in der Schweiz. In Deutschland sind es 15%, in Skandinavien 18-22%, in Italien und Frankreich 22%, in Spanien 23% und im Mutterland des Kapitalismus – in Grossbritannien – 27% (7). Grund dafür ist die Tatsache, dass ein 100%-Pensum in kaum einem europäischen Land derart viele Arbeitsstunden umfasst und gleichzeitig flexible Anpassungen erlaubt. Arbeitnehmende – vor allem Frauen – reagieren nicht zuletzt mit tieferen Arbeitspensen auf diesen Umstand. Die Reduktion der Arbeitszeit bzw. die mit einem 100%-Pensum verbundene Arbeitszeit wird deshalb zunehmend ein Thema werden müssen zur Stressreduktion, aber auch aus Gründen der Gleichstellung.
Gesellschaftliche Synchronisation
Der arbeitsfreie Sonntag ermöglicht neben der Erholung gemeinsame Aktivitäten und Muse jenseits materieller Zwänge (8). Dies ist nur möglich, wenn praktisch alle Arbeitnehmenden am gleichen Tag nicht arbeiten. Im Jahr 2020 arbeiteten drei Viertel der Arbeitnehmenden nie am Sonntag, knapp 10% regelmässig (9). Die Sonntagsarbeit ist somit richtigerweise stark auf einzelne Bereiche eingeschränkt und muss es zwingend bleiben. Während eine Erholung auch allein möglich ist, ist der gemeinsame Austausch, gemeinsame Aktivitäten und Muse in erster Linie am Sonntag möglich. Diese gesellschaftliche Synchronisation ist für das Zusammenleben und die Lebensqualität fundamental. Der Wert des Sonntags besteht nicht zuletzt darin, dass er keinen wirtschaftlichen, sondern einen nicht messbaren höheren gesellschaftlichen, kulturellen oder religiösen Zweck hat. Der Sonntag ist auch in diesem Sinne «heilig» und es besteht ein übergeordnetes gesellschaftliches Interesse daran, ihn zu schützen.
Fazit
Stress ist ein gesellschaftliches Problem und die Kosten werden gesellschaftlich getragen. Eine Flexibilisierung des bereits sehr flexiblen Arbeitsrechts – unter welchem Vorwand auch immer – wird den arbeitsbedingten Stress weiter erhöhen. Dies weil erstens bereits heute ausreichend Flexibilität im Gesetz besteht und weil zweitens wichtige Grenzen überschritten würden, welche den arbeitsbedingten Stress reduzieren. Mit Blick auf den wachsenden arbeitsbedingten Stress müssen unter anderem Fragen rund um die Wochenarbeitszeit, die Dauer der Ferien, der Planbarkeit oder die Reduktion der Sonntagsarbeit für die Arbeitnehmenden vorteilhafter geregelt werden. Somit besteht durchaus Anpassungsbedarf im Arbeitsrecht. Wer aber behauptet, das Arbeitsrecht atme grundsätzlich den Geist der Industrialisierung und sei deshalb veraltet, muss sich den Vorwurf der Nostalgie nach der Zeit vor der Industrialisierung gefallen lassen. Und nicht zuletzt ein Versagen im gesellschaftlichen Stressmanagement.
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Quellen:
1) Bundesamt für Statistik (2019): «Schweizerische Gesundheitsbefragung – Arbeitsbedingungen und Gesundheitszustand, 2012-2017», BFS Aktuell. Neuchâtel August 2019.
2) Haller L., S. Höhler, H. Stoff (2014): «Stress – Konjunkturen eines Konzepts», Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Ausgabe 11, S. 359-381.
3) Kury P. (2012): «Der überforderte Mensch – eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout», Frankfurt am Main.
4) Dazu beispielsweise Staatssekretariat für Wirtschaft (Hrsg.) (2010): «Stress bei Schweizer Erwerbstätigen – Zusammenhänge zwischen Arbeitsbedingungen, Personenmerkmalen, Befinden und Gesundheit», Bern.
5) Zum Beispiel: Pekruhl U. und Ch. Vogel (2918): «Zusammenhänge zwischen ausgewählten Arbeitsbedingungen und Zufriedenheit, Engagement und Erschöpfung von Arbeitnehmenden in der Schweiz – Auswertung des European Working Conditions Survey 2015», Fachhochschule Nordwestschweiz.
6) Zum Beispiel Staatssekretariat für Wirtschaft (Hrsg.) (2020): «Arbeitsbedingungen und Gesundheit: Stress», Bern.
7) European Working Conditions Survey 2021
8) Dazu: Weiler R. (Hrsg.) (1998): «Der Tag des Herrn – Kulturgeschichte des Sonntags», Wien/Köln/Weimar
9) Bundesamt für Statistik, Schweizerische Arbeitskräfteerhebung