Mit Ausblicke auf die kommende Legislatur wird von Wirtschaftskreisen und Arbeitgebervertretern wieder die Forderung nach einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten und einer Lockerung des Arbeitsgesetzes laut. Dabei beweist eine erst kürzlich erschienene Evaluation die negativen Auswirkungen einer gelockerten Arbeitszeiterfassung. Weitere Studien belegen eine einseitige Flexibilisierung der Arbeitszeiten, was nicht im Interesse der Arbeitnehmenden sein kann.
Auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt zeigt sich auf den ersten Blick ein Paradox: Obwohl die Arbeitnehmenden in der Schweiz im internationalen Vergleich über sehr flexible Arbeitszeiten verfügen und diese Flexibilität in den letzten Jahren noch zugenommen hat, verlieren die Arbeitnehmenden mehr und mehr die Hoheit über die Gestaltung der eigenen Arbeitszeiten. Das «Barometer Gute Arbeit» von Travail.Suisse belegt dies eindrücklich (vgl. Abbildung 1).
Abbildung 1: Einfluss auf die Arbeitszeiten 2015-2018 (in %)
Quelle: Barometer Gute Arbeit 2018, Travail.Suisse
So hat in den letzten vier Jahren der Anteil der Arbeitnehmenden ohne jeden Einfluss auf die Gestaltung der eigenen Arbeitszeiten kontinuierlich von 13.1 auf 17.8 Prozent zugenommen. Gleichzeitig hat der Anteil, der in sehr hohem Mass Einfluss auf seine Arbeitszeiten hat von 29 auf 24.5 Prozent abgenommen. Es ist dies ein starkes Indiz dafür, dass die Flexibilisierung der Arbeitszeiten einseitig verläuft und eben nicht im Interesse der Arbeitnehmenden stattfindet. Dennoch ist der politische Druck zur weiteren Flexibilisierung der Arbeitszeiten unvermindert hoch. Mit zwei, 2016 eingereichten parlamentarischen Initiativen sollte nicht nur die Abschaffung der Arbeitszeiterfassung, sondern auch eine weitgehende Deregulierung der Arbeitszeiten im Arbeitsgesetz erreicht werden.
Abschaffung der Arbeitszeiterfassung abgewehrt
Die heutige Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat 2016 unter dem Titel „Ausnahme von der Arbeitszeiterfassung für leitende Angestellte und Fachspezialisten“ (16.423), eine parlamentarische Initiative eingereicht, die für einen beträchtlichen Teil der Arbeitnehmenden in der Schweiz die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung aufheben sollte. Dies ist umso störender, weil auf Anfang 2016 bereits ein sozialpartnerschaftlicher Kompromiss zur Lockerung der Arbeitszeiterfassung in Kraft getreten ist. So ist es seit fast vier Jahren für gewisse Arbeitnehmerkategorien möglich, nur noch eine erleichterte Arbeitszeiterfassung (tägliche Arbeitszeit in Stunden ohne genaue Lage) zu führen. Für Arbeitnehmer mit mehr als 120‘000 Franken Jahreseinkommen kann der komplette Verzicht auf die Erfassung der Arbeitszeiten in einem Gesamtarbeitsvertrag vorgesehen und nach Zustimmung der Arbeitnehmenden(-Vertretung) eingeführt werden. Obwohl die WAK des Ständerates mittlerweile - nach Kenntnisnahme einer Evaluation zu den Auswirkungen dieses sozialpartnerschafltichen Komprommisses - die parlamentarische Initiative Keller-Sutter abgeschrieben hat, lohnt sich ein Blick in den Evaluationsbericht der Universität Genf.
Eine erste wichtige Erkenntnis ist, dass die erleichterte Arbeitszeiterfassung oder der vollständige Verzicht ausserhalb des Bankensektors nur sehr wenig zur Anwendung kommt. So konnten für die Untersuchung lediglich acht Unternehmen aus vier Branchen gefunden werden, die von den neuen Möglichkeiten Gebrauch machen. Und auch in diesen Unternehmen wird die erleichtere Arbeitszeiterfassung nur von 3-20 Prozent der Arbeitnehmenden und der gänzliche Verzicht von 3-13 Prozent der Arbeitnehmenden angewendet.
Weiter bestätigt die Evaluation drei grundsätzliche gewerkschaftliche Befürchtungen: Erstens erhöht eine abnehmende Arbeitszeiterfassung die wöchentliche Arbeitszeit. Während Arbeitnehmende mit vollständiger Arbeitszeiterfassung pro Woche 1.4 Stunden mehr arbeiten als vertraglich vereinbart, sind es bei erleichterter Arbeitszeiterfassung bereits 2.7 Stunden und ohne Arbeitszeiterfassung (und damit auch ohne Kompensationsmöglichkeiten) sogar 6.3 Stunden.
Zweitens sind insbesondere Arbeitnehmende ohne Arbeitszeiterfassung viel stärker von atypischen Arbeitszeiten betroffen. Die Arbeitstätigkeit in den Abendstunden sowie an Samstagen und Sonntagen ist deutlich überdurchschnittlich ausgeprägt. Die Autoren sehen als möglichen Grund dafür „im Druck zur Erreichung der Produktivitätsziele, denen sich die von Art. 73a [Verzicht auf AZE] betroffenen Arbeitnehmenden in ihrer Tätigkeit ausgesetzt sehen. Diese geben häufiger an, dass ihre Arbeitszeiten sehr stark von den zu erfüllenden Aufgaben oder Zielen abhängen“ .
Drittens hilft eine ordentliche Arbeitszeiterfassung der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. So sind von den Arbeitnehmenden mit Arbeitszeiterfassung lediglich 11.9 % mit problematischer Vereinbarkeit betroffen, während dies bei erleichterter Arbeitszeiterfassung bereits 15.8 % und ohne Arbeitszeiterfassung gar 21.8 % betrifft.
Politischer Druck zur Deregulierung der Arbeitszeiten unvermindert hoch
Die zweite parlamentarische Initiative vom abtretenden Ständerat Konrad Graber geniesst unverminderte Unterstützung aus den Reihen der WAK des Ständerates. Unter dem Titel „Teilflexibilisierung des Arbeitsgesetzes und Erhalt bewährter Arbeitszeitmodelle“ (16.414) soll ein Jahresarbeitszeitmodell eingeführt werden, das die zulässige Tagesarbeitszeit auf 13.5 Stunden und die Wochenarbeitszeit auf bis zu 67 Stunden erhöht. Gleichzeitig sollen kürzere Ruhezeiten, mehr jährliche Überstunden und bewilligungsfreie Sonntagsarbeit möglich werden. Nach breiten Widerstand in der Vernehmlassung von Seiten der Gewerkschaften, Arbeitsmedizinern, kirchlichen Kreisen und kantonalen Arbeitsmarktinspektoraten wurde eine Zustimmung der Arbeitnehmenden(-Vertretung) sowie ein zwingender Gesundheitsschutz als Voraussetzung für ein spezielles Jahresarbeitszeitmodell eingefügt, aber ansonsten an den materiellen Bestimmungen festgehalten. Auch hier lassen sich aus der Evaluation der Arbeitszeiterfassung interessante Parallelen ziehen.
Bereits bei der erleichterten Arbeitszeiterfassung oder dem Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung sind in der Verordnung Begleitmassnahmen zum Gesundheitsschutz zwingend vorgeschrieben. Die Evaluation hat jetzt aber gezeigt, dass 39.9 % der Arbeitnehmenden angeben, dass keine solchen Begleitmassnahmen bestehen. Auch die geforderte Zustimmung der Arbeitnehmemenden tönt zwar nach Selbstbestimmung, besteht den Praxistest aber nicht. So wünschen sich nur 45.3% der Arbeitnehmer mit vereinfachter Arbeitszeiterfassung und sogar nur 30.4 % ohne Arbeitszeiterfassung ihr jeweiliges System. Anders ausgedrückt heisst das, dass zwei von drei Arbeitnehmenden einem Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung zugestimmt haben, obwohl sie dies eigentlich anders wünschen würden. Laut den Autoren der Evaluation ist dies ein Indiz, dass die Arbeitnehmenden in irgendeiner Form unter Druck gesetzt werden, die erleichterte Arbeitszeiterfassung anzuwenden oder ganz darauf zu verzichten.
Bemerkenswert auch, dass die Evaluation in ihrem Fazit unter anderem folgendes empfiehlt: „Die Einführung von Mechanismen zur Kontrolle der gewöhnlichen Arbeitszeit, insbesondere um extreme Situationen zu vermeiden (55 und mehr Arbeitsstunden pro Woche)“. Als ein Problem der Ausnahmeregelungen zur Arbeitszeiterfassung wird also genau das geortet, was die parlamentarische Initiative von Konrad Graber für einen beträchtlichen Teil der Arbeitnehmenden in der Schweiz einzuführen gedenkt.
Für Travail.Suisse ist klar, dass eine einseitige Flexibilisierung der Arbeitszeiten zum Nachteil der Arbeitnehmenden ist. Neben dem grundsätzlichen Verlust der Hoheit über den Zeitpunkt der Arbeitstätigkeit, drohen verlängerte Arbeitstage und -wochen und generell ausufernde Arbeitszeiten. Zunehmender Stress und psychosoziale Risiken erhöhen die Gesundheitsrisiken und die Vereinbarkeit von Arbeit, Familienleben, Hobbys, Weiterbildungen und Milizarbeit wird verunmöglicht. Travail.Suisse wehrt sich deshalb gegen jede weitere Flexibilisierung des Arbeitsrechts.