Im Zusammenhang mit der Währungskrise nach dem SNB-Entscheid zur Aufhebung des Euro-Mindestkurses betrachten die Arbeitgeber eine Verlängerung der Arbeitszeiten als Königsweg zur Krisenbewältigung. Gleichzeitig drohen mit der Auflockerung der Arbeitszeiterfassung viele offene Fragen zu entstehen, wie ein Memorandum der Universität St. Gallen beweist. Klar ist, dass die Arbeitszeiten in der Schweiz schon überdurchschnittlich lang und flexibel sind – mit den bekannten negativen Auswirkungen auf die Arbeitnehmenden. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, wehrt sich gegen jegliche Ausnutzung der Krise, um Verschlechterungen der Arbeitszeiten auf dem Buckel der Arbeitnehmenden durchzusetzen.
Die Arbeitszeiten gehören zu den zentralen Elementen der Arbeitsbedingungen für die Arbeitnehmenden. Nur mit vernünftigen Arbeitszeiten und ausreichend Ruhezeiten ist die Erholung sichergestellt und nur mit verlässlicher Planbarkeit wird die Vereinbarkeit von Beruf und Familie möglich. Die Arbeitszeiten sind zentral, damit die Arbeitnehmenden gesund und motiviert ihren Beitrag an Produktivität und Innovationskraft der Schweizer Wirtschaft leisten können und die Herausforderungen des Arbeitskräftemangels zu meistern.
Arbeitszeiten in der Schweiz: lang und flexibel
Die Wochenarbeitszeiten in der Schweiz sind mit durchschnittlich 44.3 Stunden deutlich länger als das europäische Mittel von 42.5 Stunden. Auch die Arbeitszeiten sind deutlich flexibler ausgestaltet als in den Nachbarländern: Die Schweiz erfuhr zwischen 2005 und 2010 einen wahren Flexibilisierungsboom (Anstieg der flexiblen Arbeitsverhältnisse von 48% auf 60%), während sich in den EU-Betrieben in dieser Hinsicht nur wenig änderte (22%). 1 Fast die Hälfte der Arbeitnehmenden in der Schweiz arbeitet ab und zu länger als 10 Stunden pro Tag wie die Schweizerische Gesundheitsbefragung zeigt 2 . Dies trägt auch zur starken Verbreitung von Überstunden bei, die von den Arbeitnehmenden oftmals als zusätzliche Belastung wahrgenommen. Im 2013 wurden in der Schweiz beinahe 200 Millionen Überstunden 3 geleistet, was umgerechnet über 100‘000 Vollzeitstellen entspricht. Zusammen mit Zeitdruck, Arbeitsverdichtung, Parallelität von Aufgabenerledigung („Multitasking“), sowie dem Verschwimmen von klaren Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit führt dies zu Druck und Stress bei den Arbeitnehmenden. Gemäss einer vom Seco in Auftrag gegebenen Studie 4 fühlt sich rund ein Drittel der Erwerbstätigen in der Schweiz häufig oder sehr häufig gestresst. Dies ist eine Zunahme von 30% innerhalb von 10 Jahren. Und gemäss dem Job-Stress-Index der Universität Bern sind in der Schweiz ein Viertel der Arbeitnehmenden oder rund eine Million Menschen erschöpft und 300‘000 stehen kurz vor einem Burn-out.
Verstärkter Druck auf die Arbeitszeiten und viele offenen Fragen
Mit dem Nationalbankentscheid, die Frankenuntergrenze nicht mehr zu verteidigen, gestaltet sich die wirtschaftliche Situation in der Exportindustrie, dem Tourismus und dem Detailhandel noch herausfordernder. Die Drohung, Arbeitsplätze abzubauen oder ins Ausland zu verlagern, oder die Ankündigung der Bezahlung der Löhne in Euro erhöht die Angst um den Arbeitsplatz. Dabei hat sich insbesondere die Verlängerung der wöchentlichen Arbeitszeit als Allerheilmittel der Arbeitgeber herauskristallisiert. Was im Einzelfall eine vorübergehend durchaus sinnvolle Massnahme sein kann, um Arbeitsplätze zu erhalten, darf auf keinen Fall missbraucht werden, um die Gewinnmargen zu optimieren – Währungsschwankungen gehören grundsätzlich zum unternehmerischen Risiko der Arbeitgeber und dürfen nicht auf die Arbeitnehmer abgewälzt werden.
Zusätzliche Unsicherheit im Bereich der Arbeitszeiten entsteht durch die geplante Auflockerung der Arbeitszeiterfassung. Ein Vorschlag des Departements für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF klärt nun – mitgetragen von den Sozialpartnern – die Grundzüge, unter denen zukünftig auf eine Erfassung der Arbeitszeiten gänzlich oder zumindest in einer detaillierten Form verzichtet werden könnte (vgl. Medienmitteilung WBF vom 22.2.2015). Die Grundzüge umfassen drei Bedingungen die kumulativ erfüllt sein müssen, damit ein Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung zukünftig zulässig sein soll. Erstens muss der AHV-pflichtige Jahreslohn (inkl. Boni) mehr als 120‘000 Franken betragen. Zweitens müssen die Arbeitnehmenden über eine sehr grosse Zeitautonomie verfügen. Und drittens muss der Verzicht im Rahmen eines Gesamtarbeitsvertrages geschehen.
Ein im Auftrag von Travail.Suisse und durch das Forschungsinstitut für Arbeit und Arbeitsrecht der Universität St. Gallen erstelltes Memorandum 5 macht allerdings deutlich, dass durch die Auflockerung der Arbeitszeiterfassung eine Vielzahl neuer und offener Fragen entsteht, die Klärung bedürfen.
Gemäss dem Memorandum gelten die Schutzmassnahmen des Arbeitsgesetzes grundsätzlich auch bei einem Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung, Unsicherheit besteht aber bei arbeitsgesetzlichen Normen die an die Arbeitszeiterfassung anknüpfen, beispielsweise bei der Beweisbarkeit von geleisteten Überstunden und Überzeit und bei der Kompensation derselben. Diese Problematik manifestiert sich im Besonderen bei Teilzeitangestellten. Ebenso sind die Einhaltung der täglichen Ruhezeit, die Kompensation der Nacht- und Sonntagsarbeit und die medizinische Untersuchung bei längerer Nachtarbeit bisher direkt von der Arbeitszeiterfassung abhängig. Weiter ist die betriebliche Arbeitszeitkontrolle eine zwingende Voraussetzung für Kurzarbeitsentschädigung. Der Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung droht so auch ein wirksames Instrument der Arbeitslosenversicherung zur Verhinderung von Arbeitslosigkeit auszuhebeln.
Vernünftig geregelte Arbeitszeiten sind zentral für die Arbeitnehmenden
Vernünftig geregelte Arbeitszeiten sind von grösster Wichtigkeit für die Gesundheit und Motivation der Arbeitnehmenden. Travail.Suisse wehrt sich dagegen, dass die Krise für eine weitere Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, insbesondere der Arbeitszeitregelungen ausgenützt wird. Die folgenden vier Forderungen sind daher von grösster Wichtigkeit:
1. Für den Prozess muss einerseits genügend Zeit für den Einbezug der Gewerkschaften und eine transparente Informationspolitik zum Nachweis der Notwendigkeit der geplanten Massnahmen zentral sein. Andererseits sind Arbeitszeiterhöhungen zwingend zeitlich zu befristen und mit einem regelmässigen Monitoring über die Wirksamkeit der Massnahmen wichtig. Ausserdem muss die Opfersymmetrie beachtet werden, so dass neben den Arbeitnehmenden auch das Management und die Shareholder ihren Beitrag leisten.
2. Der Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung darf nicht mit einem Verzicht auf die Schutzmassnahmen für die Arbeitnehmenden gleichgesetzt werden. Die im Memorandum der Universität St. Gallen aufgezeigten offenen Fragen und Problemfelder müssen in der Konsultation zur konkreten Änderung der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz geklärt und in der Umsetzung berücksichtigt werden.
3. Die Überzeitregelungen für Teilzeitarbeitende sind zu verbessern. Mehr als ein Drittel der Arbeitnehmenden arbeiten in einem Teilzeitpensum. Die Regelungen zur wöchentlichen Höchstarbeitszeit sowie zur Überzeit und dessen Entschädigung sind aber auf Vollzeitarbeitnehmende ausgerichtet. Anteilsmässig müssen Teilzeitbeschäftigte so viel mehr Arbeitsstunden über die vertragliche Arbeitszeit hinaus leisten, bis sie in den Bereich der kompensierten Überzeit kommen. Teilzeitarbeitende werden so zu einem Gratis-Puffer für zusätzlichen Arbeitsanfall, was aber die Planbarkeit und so die Vereinbarkeit der Arbeitnehmenden stark erschwert. Travail.Suisse unterstützt die Anpassung der wöchentlichen Überzeitgrenze anteilsmässig an den Beschäftigungsgrad, wie sie in der Motion 15.3102 „Überzeit: Gleichbehandlung von Teilzeit- und Vollzeitbeschäftigten“ von Nationalrat und Travail.Suisse-Vizepräsident Jacques-André Maire gefordert wird.
4. Überbordende Flexibilität verunmöglicht die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Gemäss Gesetz sind Arbeitnehmende mindestens zwei Wochen im Voraus über ihre Einsätze zu informieren. Diese kurze Frist wird in der Praxis oftmals noch unterschritten. Kurzfristigere Arbeitseinsätze oder Absagen von geplanten Einsätzen sind in diversen Branchen an der Tagesordnung. Dies ist für die Arbeitnehmenden eine grosse Belastung und führt insbesondere bei Teilzeitbeschäftigten zu Schwierigkeiten mit der Planbarkeit und verunmöglicht eine sinnvolle Vereinbarkeit mit Betreuungspflichten, einer Weiterbildung oder einer Zweitbeschäftigung. Travail.Suisse unterstützt den Grundsatz einer Vorankündigungsfrist von vier Wochen, wie er in der Motion 15.3101 „Erhöhung der Ankündigungsfrist der Arbeitszeiten auf vier Wochen“ von Jacques-André Maire gefordert wird.
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p(footnote). 1 Fachhochschule Nordwestschweiz. 5. Europäische Erhebung über die Arbeitsbedingungen 2010. Ausgewählte Ergebnisse aus Schweizer Perspektive.
2 Seco. Arbeit und Gesundheit. Zusammenfassung der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2007.
3 Bundesamt für Statistik. Arbeitsvolumenstatistik.
4 Seco. Stressstudie 2010 – Stress bei Schweizer Erwerbstätigen.
5 www.travailsuisse.ch/system/uploadedfiles/3295/original/Memorandum.pdf