Schweizer Arbeitskräfte sind sehr flexibel und einsatzfreudig und leisten so einen wichtigen Beitrag zur erfreulichen Performance des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft in der Schweiz. Gleichzeitig nehmen aber die Belastungen in der Arbeitswelt ständig zu; Produktivitätssteigerungen und Arbeitsverdichtungen erhöhen den Druck auf die Arbeitnehmenden. Für Travail.Suisse, den unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, ist klar, dass die Balance zwischen Belastung und Erholung zunehmend verloren geht. Die Folge sind gesundheitliche Probleme bei den Betroffenen und hohe Kosten für die Gesellschaft.
In den letzten 30 Jahren hat die Arbeitswelt grosse Änderungen erfahren. Zeitdruck, Arbeitsverdichtung, Parallelität von Aufgabenerledigungen („Multitasking“), ständige Arbeitsunterbrechungen durch Telefonate und E-Mails sowie das Verschwimmen von klaren Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verursachen Druck und Stress bei den Arbeitsnehmenden. Ausserdem zeichnet sich der Arbeitsmarkt der Schweiz durch lange Arbeitszeiten, weite Arbeitswege und viele Überstunden aus.
Lange Arbeitszeiten und grosser Einsatz der Arbeitnehmenden
Die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten war über lange Zeit hinweg ein Kernanliegen der Gewerkschaften. Es ging dabei um den Schutz der Gesundheit der Beschäftigten, eine verbesserte Lebensqualität und – in Zeiten verbreiteter Erwerbslosigkeit – um die Sicherung von Arbeitsplätzen. In der Schweiz verlief die Entwicklung der Arbeitszeitverkürzung immer schon weniger stark ausgeprägt. Seit 1967 beträgt die gesetzliche Wochenarbeitszeit für die meisten Arbeitnehmenden 45 Stunden und hat sich seither kaum mehr verändert. So weisen die Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BfS) 1 für die Schweiz zwischen 1990 und 2009 nur noch eine geringfügige Reduktion der durchschnittlichen wöchentlichen Arbeitszeit von 0.5 Stunden aus. Im europäischen Vergleich sind die Wochenarbeitszeiten in der Schweiz überdurchschnittlich lang. In einer europaweiten Studie 2 wird die Wochenarbeitszeit (nur Vollzeitstellen) im Jahr 2010 in der Schweiz mit durchschnittlich 44.3 Stunden ausgewiesen, während das europäische Mittel bei 42.5 Stunden und in den direkten Nachbarländern der Schweiz noch einmal darunter liegt.
Für die Erwerbstätigen in der Schweiz kommen zu den langen Arbeitszeiten auch noch überdurchschnittlich lange Wege zur Arbeitsstelle hinzu. Im Europäischen Durchschnitt benötigen Arbeitnehmenden knapp 40 Minuten pro Tag für ihren Arbeitsweg (hin und zurück), in der Schweiz sind es knapp 10 Minuten mehr. Seit 2005 hat sich die durchschnittliche Länge des Arbeitsweges um fast 13 Minuten verlängert.
Auch in Bezug auf die geleisteten Überstunden lässt sich eine zunehmende Belastung der Schweizer Arbeitnehmenden feststellen (vgl. Grafik 1). Im Jahr 2011 wurden in der Schweiz 219 Millionen Überstunden geleistet. Dies entspricht 113‘000 Vollzeitstellen. Das Überstundenvolumen hat stark zugenommen. So weist das BfS seit 2002 eine Zunahme der Überstunden pro Kopf von 15 Prozent aus.
Grafik 1: Entwicklung der Überstunden 2005-2011 (in Mio. Stunden)
(eigene Darstellung. Quelle: Beschäftigungsstatistik BfS 2013 & AVOL)
Belastung und Stress führen zu hohen Kosten
Lange Arbeitszeiten, weite Arbeitswege und zahlreiche Überstunden führen zu einer starken Belastung, die Folge sind Stress und gesundheitliche Probleme bei den betroffenen Arbeitnehmenden. In einer Studie des Staatssekretariates für Wirtschaft SECO 3 geben 11 Prozent der Erwerbstätigen an, dass sie einen Zusammenhang zwischen belastenden Arbeitszeiten und ihren gesundheitlichen Problemen sehen. Stress am Arbeitsplatz ist definitiv keine Randerscheinung, sondern ein weit verbreitetes Phänomen. Rund ein Drittel der Erwerbstätigen in der Schweiz fühlen sich häufig oder sehr häufig gestresst. 4 Dies sind 30 Prozent mehr als noch vor 10 Jahren. Und in Zukunft wird Stress zu einem der grössten Arbeitsplatz-Risiken überhaupt. So geht die SUVA davon aus, dass bis ins Jahr 2030 die psychischen und neurologischen Krankheiten um fünfzig Prozent zunehmen werden. Dannzumal wird die Anzahl arbeitsbedingter, psychischer Erkrankungen die physischen Erkrankungen übersteigen. Folglich wird chronischer Stress für die Mehrzahl der ausgefallenen Arbeitsstunden verantwortlich sein – nicht mehr die Grippe. Wer sich dem Zeit- und Leistungsdruck nicht anpassen kann, hat es schwer, sich auf dem Arbeitsmarkt erfolgreich zu behaupten. Überforderung und Stress werden von den meisten ohne Widerrede in Kauf genommen – mit der Folge, dass immer mehr Menschen an gesundheitlichen Symptomen leiden. Die gesundheitlichen Folgen zeigen sich zum Beispiel in Schlafproblemen, chronischen Schmerzen, Herz-Kreislauf-Problemen oder Burnouts. Die Auswirkungen auf die Betroffenen und deren Familien sind immens. Auch die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind enorm, so belaufen sich die wirtschaftlichen Kosten von Stress auf jährlich 10 Milliarden Franken. Stress ist ausserdem ein Auslöser für die klassischen Verschleisserscheinungen, die dazu beitragen, dass bereits heute ein Drittel der Arbeitnehmenden aus gesundheitlichen Gründen nicht bis zur ordentlichen Pensionierung arbeiten, sondern frühzeitig aus dem Erwerbsprozess ausscheiden. Im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung, der Alterung der Erwerbstätigen und dem damit zusammenhängenden Fachkräftemangel wird sich diese Problematik zukünftig noch verschärfen.
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p(footnote). 1 Bundesamt für Statistik. Statistik der Betriebsüblichen Arbeitszeit (BUA).
2 Fachhochschule Nordwestschweiz. 5. Europäische Erhebung über die Arbeitsbedingungen 2010. Ausgewählte Ergebnisse aus Schweizer Perspektive.
3SECO. Arbeit und Gesundheit. Zusammenfassung der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2007.
4SECO. Stressstudie 2010 – Stress bei Schweizer Erwerbstätigen.