Reallohnverluste sind keine statistische Fatamorgana
Das Bundesamt für Statistik veröffentlicht in regelmässigen Abständen einen Lohnindex. Dieser zeigt für die Jahre 2021-2023 einen historischen Rückgang der Reallöhne. Verschiedene alternative Erhebungen stellen diese Entwicklung in Frage, so etwa eine Erhebung der Schweizerischen Nationalbank, Befragungen durch die UBS oder Auswertungen von AHV-Daten. Vieles spricht jedoch dafür, dass das Bundesamt für Statistik den verlässlichsten Indikator liefert. Die deutlich positivere Lohnentwicklung in Arbeitsverhältnissen, bei denen die Löhne kollektiv verhandelt werden, sowie Befragungen zur Rolle von individuellen Lohnverhandlungen deuten zudem darauf hin, dass individuelle Lohnverhandlungen nach der Anstellung nur in begrenztem Ausmass überhaupt geführt werden.
Die Reallöhne sanken in den Jahren 2021-2023 um mehr als 3 Prozent. Der deutliche Anstieg der Konsumentenpreise konnte also bei weitem nicht durch höhere Nominallöhne kompensiert werden. Eine vergleichbare Entwicklung wurde in der Nachkriegszeit bisher nie beobachtet. In der Regel wurden hohe Inflationsraten spätestens ein bis zwei Jahre später durch entsprechende Lohnerhöhungen ausgeglichen. Die rückläufige Reallohnentwicklung bei gleichzeitig tiefer Arbeitslosigkeit hat deshalb zu Diskussionen geführt. Dabei lautet ein Argument, dass die ihr zugrunde liegende Statistik, der Lohnindex des Bundesamts für Statistik, die Entwicklung falsch darstelle.[1]
Unterschiedliche Indikatoren – keine verlässliche Alternative
Der Lohnindex des Bundesamts für Statistik wird aus der Unfallstatistik mit jährlich rund 250‘000 Unfallmeldungen errechnet. Der Index weist neben vielen Stärken auch Schwächen auf. So berücksichtigt er keine beruflichen Veränderungen wie einen Branchenwechsel oder einen beruflichen Aufstieg, sondern geht von einer stabilen Struktur aus.[2] Dies kann vor allem mittel- und langfristig zu Verzerrungen führen. Des Weiteren werden variable Lohnbestandteile (z.B. Boni) im Lohnindex nicht berücksichtigt. Dies könnte etwa bei den Löhnen im Finanzsektor oder bei hohen Löhnen dazu führen, dass die effektiven Lohnzahlungen zu tief eingeschätzt werden. Zudem ist die Zahl der Unfälle insbesondere während der Covid-Pandemie stark zurückgegangen. Dies könnte den Rückgang der Nominallöhne im Jahr 2021 erklären. Der Lohnindex weist allerdings zwei entscheidende Vorteile auf: er basiert erstens auf einer grossen Zahl von Lohnmeldungen. Dies erhöht die Verlässlichkeit der Informationen. Zweitens ist aus den Unfallmeldungen ersichtlich, in welchem Arbeitspensum die Arbeitnehmenden effektiv arbeiten. Eine Zunahme der Arbeitspensen führt folglich auch nicht zu einem höheren und eine Abnahme der Arbeitspensen entsprechend nicht zu einem tieferen Lohnwachstum. Diese Information fehlt in vielen alternativen Lohnstatistiken, was zu bedeutenden Verzerrungen führen dürfte. So etwa bei Lohnschätzungen, welche auf der AHV-Statistik basieren. Zwar basieren die Lohndaten der AHV-Statistik auf den Meldungen aller AHV-Versicherten, allerdings geben die Versicherten dabei nicht an, in welchem Pensum sie arbeiten. Dadurch bleibt letztlich unklar, ob Lohnveränderungen nicht einfach auf eine Veränderung des Arbeitspensums zurückzuführen sind. Eine Schätzung der Lohnentwicklung muss deshalb Annahmen zu den Arbeitspensen der Arbeitnehmenden treffen. Diese Annahmen sind aber mit sehr hohen Unsicherheiten behaftet. Zudem fehlen in der AHV-Statistik wichtige Informationen etwa über die Branche, in der eine Person arbeitet. Es spricht deshalb wenig dafür, dass eine Lohnschätzung aus der AHV-Statistik grundsätzlich genauer ist als eine Lohnschätzung aus dem Lohnindex. Sofern aus der AHV-Statistik in den Jahren 2021-2023 eine bessere Lohnentwicklung abgeleitet wird als aus dem Lohnindex, ist dies sehr wahrscheinlich auf nicht zutreffende Annahmen zur Entwicklung der Arbeitspensen zurückzuführen.
Innovativ ist der Ansatz von Mitarbeitenden der Schweizerischen Nationalbank.[3] Sie verwenden die Daten von Lohnzahlungen aus dem Swiss Interbank Clearing System. Das System erlaubt es, aus den Zahlungsdaten Rückschlüsse auf die Lohnentwicklung zu ziehen. Allerdings fehlen auch hier Informationen über die Arbeitspensen der Arbeitnehmenden. Zudem bleibt unklar, ob Lohnveränderungen aufgrund von Stellenwechseln oder aufgrund eines beruflichen Aufstiegs erfolgen. Auch dieser Indikator ist damit im Gegensatz zum Lohnindex des Bundesamts für Statistik mit sehr grossen Unsicherheiten behaftet und kann deshalb kaum als Alternative verwendet werden. Die bessere Lohnentwicklung gemäss dem SNB-Indikator dürfte vor allem auf diese methodischen Mängel zurückzuführen sein.
Als weiterer Indikator können die Befragungen der UBS herangezogen werden. Auch sie weisen in den letzten Jahren höhere Lohnzuwächse aus. Die Lohnschätzung der UBS basiert auf Unternehmensbefragungen. Im Jahr 2024 wurden insgesamt 345 Unternehmen befragt, was verglichen mit den 620‘000 privaten Unternehmen in der Schweiz einer kleinen Stichprobe entspricht. Die UBS-Lohnschätzung liefert damit wichtige Hinweise und Prognosen für die effektive Lohnentwicklung, erfüllt aber kaum die Kriterien für einen verlässlichen Indikator. Somit bleibt der Lohnindex des Bundesamts für Statistik, trotz seiner Schwächen, der verlässlichste Indikator für die Lohnentwicklung. Die historisch schwache Reallohnentwicklung ist also mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Fatamorgana.
Kollektive Lohnverhandlungen und gesamtarbeitsvertragliche Regelungen zentral
Damit stellt sich die Frage nach den effektiven Gründen für die beobachtete Reallohnentwicklung. Eine weitere Erhebung des Bundesamts für Statistik liefert einen ersten Hinweis.[4] In Branchen mit Gesamtarbeitsverträgen, d.h. in denen die Löhne von Arbeitnehmenden- und Arbeitgebendenorganisationen kollektiv verhandelt werden oder in denen es bereits in den Gesamtarbeitsverträgen Regelungen gibt, die eine automatische Anpassung der Löhne an die Inflation vorsehen, sind die Reallöhne deutlich stärker gestiegen als im Durchschnitt. Die Reallohnverluste konnten dadurch in engen Grenzen gehalten werden.[5]
Nominales Lohnwachstum in der Gesamtwirtschaft gemäss Lohnindex und kollektiv ausgehandelte Lohnabschlüsse im Rahmen von Gesamtarbeitsverträgen
Bundesamt für Statistik (Lohnindex, SLI), Bundesamt für Statistik (Erhebung über die gesamtarbeitsvertraglichen Lohnabschlüsse, EGL)
Ohne kollektive Lohnverhandlungen ist der Lohn häufig kein Thema
In der Schweiz sind etwa 2 Millionen Arbeitnehmende einem Gesamtarbeitsvertrag unterstellt. Dies entspricht nach Abzug der öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnisse etwas mehr als 40% der Arbeitnehmenden. Auch bei den öffentlich-rechtlichen Arbeitsverhältnissen finden teilweise Lohnverhandlungen statt, allerdings ohne Gesamtarbeitsvertrag. Somit muss etwa die Hälfte der Arbeitnehmenden ausschliesslich individuelle Lohnverhandlungen führen. Die Frage ist, ob dies tatsächlich geschieht und ob nach der Anstellung überhaupt noch Lohngespräche geführt werden. Vieles spricht dafür, dass dies häufig nicht der Fall ist. Hinweise darauf liefert etwa die repräsentative Befragung «Barometer Gute Arbeit», die Travail.Suisse gemeinsam mit der Berner Fachhochschule jährlich durchführt. Darin geben über 60 Prozent der befragten Arbeitnehmenden an, dass bei ihnen der Lohn kein Thema beim Mitarbeitendengespräch ist. Nur rund 30 Prozent der Befragten gab an, dass der Lohn im Jahr 2024 im Mitarbeitendengespräch überhaupt thematisiert wurde. Sofern also knapp 50 Prozent der Löhne kollektiv verhandelt werden und bei etwa 30 Prozent der Arbeitnehmenden individuelle Lohngespräche stattfinden, wird in mindestens 20 Prozent aller Arbeitsverhältnisse der Lohn gar nicht verhandelt. Wichtig ist dabei, dass es sich bei diesen 20 Prozent um einen Mindestwert handelt. Die Befragung zum Mitarbeitendengespräch unterscheidet nämlich nicht zwischen Arbeitnehmenden, deren Lohn kollektiv verhandelt wurde und solchen, welche individuell verhandeln müssen. Somit kann es sein, dass auch Arbeitnehmende, deren Lohn kollektiv verhandelt wurde in der Befragung angaben, der Lohn sei im Mitarbeitendengespräch ein Thema gewesen. Die Zahl von 20% der Arbeitnehmenden, welche gar keine Lohnverhandlungen führen, entspricht somit der untersten Schätzung. Vermutlich dürfte der Wert effektiv höher liegen. Dies zeigt, dass dort, wo die Löhne nicht kollektiv verhandelt werden, häufig überhaupt nicht verhandelt wird.
Allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge sind Voraussetzung für eine stabile Lohnentwicklung
Individuelle Lohnverhandlungen dürften zudem vor allem im oberen Lohnsegment verbreitet sein. Umso bedeutender sind deshalb kollektive Lohnverhandlungen in Branchen und auf Stufen mit mittleren und tiefen Löhnen. Diese können nur durch eine breite Abdeckung mit allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträgen sichergestellt werden. Sie sind deshalb eine wichtige Voraussetzung für stabile Löhne und damit auch für eine stabile wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung.
Quellen
[1] https://www.tagesanzeiger.ch/arbeitsmarkt-schweizer-loehne-entwickelten-sich-besser-als-der-bund-ausweist-683703819467
[2] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/erhebungen/sli.assetdetail.2461575.html
[3] https://www.snb.ch/public/publication/en/www-snb-ch/publications/research/economic-notes/2024/economic_note_2024_02/0_en/economic_note_2024_02.pdf
[4] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/gesamtarbeitsvertraege-sozialpartnerschaft/lohnverhandlungen.assetdetail.32626114.html
[5] https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/gesamtarbeitsvertraege-sozialpartnerschaft/lohnverhandlungen.assetdetail.32626114.html