Die Lohnthesen der Arbeitgeber – eine Replik
Der Arbeitgeberverband weist die Lohnforderungen der Arbeitnehmendenseite zurück. Aufgrund der steigenden Preise seien Reallohnverluste kurzfristig leider unumgänglich. Nachfolgende Beispiele aus den letzten Jahrzehnten zeigen jedoch eindeutig, dass dies nicht der Fall ist. Travail.Suisse hat ausserdem nachgerechnet und zeigt, wie zurückhaltend die Lohnforderungen von bis zu 4.5% sogar unter den Annahmen der Arbeitgeber sind.
Die Konjunkturforschungsstelle KOF hat Arbeitgebende befragt, wie stark sie die Löhne im kommenden Jahr erhöhen wollen. Die Antwort: um 2 Prozent. Unter der Annahme, dass die Konsumentenpreise, wie von der Schweizerischen Nationalbank (SNB) prognostiziert, um 2.2% steigen, wären damit die Reallöhne erneut leicht rückläufig. Die Preise würden somit zum vierten Jahr in Folge stärker steigen als die Löhne und die Kaufkraft der Arbeitnehmenden dadurch erneut reduzieren. Damit erscheint die Lohnentwicklung mit den derzeit vorliegenden Daten, als wären wir in der schlimmsten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Tatsächlich verzeichneten nach der Pandemie sowohl die Beschäftigung, die Wertschöpfung als auch die Produktivität deutliche Zuwächse. Zudem stiegen die Erträge der Unternehmen im ersten Quartal 2023 über das Niveau vor der Pandemie.
Reallohnentwicklung in der Nachkriegszeit
Bundesamt für Statistik, Veränderung zum Vorjahr in %, 1995-2022, *2023 Schätzung, 2024 Prognosen
Zur Grafik: Für das Jahr 2023 wird die aktuelle Quartalsschätzung vom Bundesamt für Statistik (+1.8%) und die Inflationsprognose der SNB verwendet (+2.2%). Für das Jahr 2024 wird die Zahl aus der Befragung der KOF Konjunkturforschungsstelle (2%) verwendet und die Inflationsprognose der SNB (2.2%).
Der Arbeitgeberverband (SAV) versucht mit einem eigenen Lohnpapier die Argumente, welche von der Arbeitnehmendenseite eingebracht wurden, zu widerlegen. Ihre Argumentation zu den Löhnen lässt sich etwa wie folgt zusammenfassen: die Reallöhne sind in den Jahren 2021 und 2022 deshalb stark gefallen, weil die Inflationsraten unerwartet stark zugenommen haben. Mittel- und langfristig müssten die Reallöhne aber mit der Produktivität Schritt halten. Dazu eine kurze Replik:
Überraschend starker Anstieg der Preise als Ursache für Reallohnverluste?
Das Argument klingt einigermassen plausibel. Die rasche Erholung nach der Pandemie und der Krieg in der Ukraine haben die Preise vor allem für Energieträger stark und überraschend schnell in die Höhe getrieben. Während im Jahr 2020 die Preise noch um 0.7% sanken, stiegen sie in den Jahren 2021 zuerst um 0.6%, danach um 2.8% und im Jahr 2023 um 2.2%. Das Argument der raschen und unerwarteten Preissteigerung mag für die Jahre 2021 und 2022 eine gewisse Gültigkeit haben, nicht aber für die Jahre 2023 und 2024. Dies zeigt ein Blick auf Löhne und Preise in den letzten Jahrzehnten:
- Zwischen 1968 und 1971 stieg die Inflationsrate von 4.9% auf 12.4% und somit um satte 7.5 Prozentpunkte. Tatsächlich aber sanken die Reallöhne in diesem Zeitraum nie. Im Gegenteil, sie stiegen eher noch stärker als in den Vorjahren.
- Im Jahr 1979 stiegen die Preise ebenfalls rasch an. Hatte die Inflationsrate 1978 noch bei 0.4% gelegen, so stieg sie nun innert Kürze auf 5%. Die Reallöhne sanken als Folge davon 1979 um 1.5%. Aber bereits im nachfolgenden Jahr erfolgte ein Anstieg der Reallöhne um 1.6% und damit eine vollständige Kompensation der Reallohnverluste.
- 1981 stiegen die Preise erneut deutlich an, um 7.3% nach 3.6% im Vorjahr. Erneut folgte eine rasche Kompensation in den Jahren 1982 und 1983, so dass die Reallöhne 1983 deutlich höher lagen als 1981.
- Auch in den Jahren 1999 und 2000 stiegen die Preise mit 0.8% und 1.6% etwas rascher als in den Vorjahren. Die Reallöhne sanken in beiden Jahren leicht, um 0.5% bzw. 0.3%. In den Jahren 2001-2003 erfolgte aber eine rasche und vollständige Kompensation. Die Reallöhne lagen dadurch 2003 deutlich höher als im Jahr 1999.
Diese historischen Beispiele aus der Schweiz zeigen vor allem zwei Dinge:
- Hohe Inflationsraten sind kein Grund für sinkende Reallöhne.
- Rasche Anstiege der Inflationsraten haben in der Vergangenheit immer wieder zu einem oder sogar zwei Jahren mit sinkenden Reallöhnen geführt. Danach erfolgte aber in allen Fällen eine rasche Kompensation, so dass die Reallöhne innerhalb von ein bis zwei Jahren das alte Niveau überstiegen.
Aufgrund der aktuellen Daten zeigt sich nun aber, dass die Reallohnverluste, welche die Arbeitnehmenden derzeit verzeichnen, in der Nachkriegszeit einmalig sind. Auch wenn neue Daten beispielsweise des Bundesamts für Statistik nicht auf sinkende, sondern stagnierende Reallöhne im Jahr 2023 hindeuten sollten, so bleibt doch die Kompensation für die massiven Reallohnverluste in den Jahren 2021 und 2022 in jedem Fall bisher aus. Die Argumente der Arbeitgeberseite, dass hohe und rasche Preiszuwächse verantwortlich sind für vier Jahre sinkende bzw. stagnierende Reallöhne sind damit nicht haltbar.
Mittel- bis langfristig müssen Löhne mit der Produktivität schritthalten
Der Arbeitgeberverband schreibt in seinem Lohnpapier unmissverständlich: «Mittel- bis längerfristig müssen die Reallöhne mit der Arbeitsproduktivität Schritt halten.» Damit besteht in diesem Punkt zwischen dem Lohnpapier des SAV und dem Grundsatzpapier von Travail.Suisse zu den Löhnen grundsätzlich Einigkeit. Der SAV verwendet in seinem Lohnpapier eine Grafik zur Entwicklung der Reallöhne und der Produktivität seit 2010. Selbstverständlich ist der Zeitraum zum Vorteil der Argumente der Arbeitgeberseite gewählt und tendenziös. Die Reallöhne sind nach 2010 etwas über der Produktivität gestiegen. Aber sogar mit der Wahl dieses Zeitraumes lässt sich zeigen, dass die Reallöhne im Jahr 2024 deutlich steigen müssten, um den Grundsatz «Reallohnwachstum = Produktivitätswachstum» genüge zu tun.
Entwicklung der Reallöhne und der Produktivität
Bundesamt für Statistik, Index (100 = 2003), 2010-2022, 2023 Schätzung (0.5%)
Zur Grafik: Bis zum Jahr 2022 liegen Daten des BfS vor zur Produktivität. Für das Jahr 2023 wird zurückhaltend ein Produktivitätswachstum von 0.5% angenommen. In den Jahren 2010 bis 2022 lag dieses bei durchschnittlich 1.2%.
Mit den aktuellen Daten und den zurückhaltenden Annahmen für das Jahr 2023 ergibt sich somit auch bei der auf die Arbeitgeberinteressen zugeschnittenen Wahl des Zeitraums ein beträchtlicher Reallohnrückstand von 7.9%. Das heisst, die Reallöhne müssten 2024 um fast 8% steigen, damit der Lohnrückstand seit 2010 aufgeholt werden könnte.
Entwicklung der Reallöhne und der Produktivität
Bundesamt für Statistik, Index (100 = 2003), 2010-2022, 2023 Schätzung (0.5%)
Nehmen wir nun unrealistischerweise an, dass die Produktivität im Jahr 2023 komplett stagniere (0%). Dann beträgt der Rückstand der Reallöhne auf die Produktivität für den gewählten Zeitraum immer noch 7.4%. Dies zeigt wie zurückhaltend die Lohnforderungen für 2024 mit 3.5% bis 4.5% wirklich sind. Tatsächlich muss der Lohnrückstand nicht in einem Jahr aufgeholt werden, sondern kann auch über zwei Jahre erfolgen. Das Lohnpapier der Arbeitgeber zeigt aber, in welche Richtung die Lohnverhandlungen für das Jahr 2024 gehen müssen.
Lebenshaltungskosten steigen stark
Die Reallohnverluste sind umso schmerzhafter, weil viele Arbeitnehmende derzeit massive Mehrkosten zu verkraften haben. Diese zeigen sich vor allem beim Anstieg der Krankenkassenprämien von 6.6% in diesem und von erwarteten 6% im kommenden Jahr. Aber auch die stark steigenden Mietpreise werden von der Inflationsrate vor allem für jüngere Arbeitnehmende, welche auf Wohnungssuche sind, nicht realitätsgetreu abgebildet. Die effektiven Preissteigerungen bei ausgeschriebenen Mietwohnungen liegen deutlich über den im Konsumentenpreisindex abgebildeten. Auch deshalb ist klar, dass sich die Arbeitnehmenden bei den Lohnverhandlungen nicht mit 2% werden abspeisen lassen. Und ihren Unmut dagegen auch am 16. September auf der Strasse in Bern kundtun werden.