Kaufkraft des Mittelstandes unter Druck
Dieses Jahr dürften die Reallöhne in der Schweiz zum dritten Mal in Folge sinken. Doch die Kaufkraft des Mittelstandes leidet schon lange. Mit den Reallohnzuwächsen der letzten 20 Jahre können erwerbstätige Familien im besten Fall die zusätzlichen Kosten für die Krankenkassenprämien und die höheren Mieten decken. Dies zeigen Berechnungen von Travail.Suisse.
In diesem Jahr dürften die Reallöhne das dritte Jahr in Folge sinken. Darauf deuten die Daten des Bundesamts für Statistik, sowie die Schätzungen zur Inflation beispielsweise der Schweizerischen Nationalbank hin. Während der letzten sieben Jahre sanken die Reallöhne damit in fünf Jahren.
Reallohnentwicklung 2003-2023
Bundesamt für Statistik, jährliche Veränderung in %, 2023* = Prognose mit aktuellen Daten (1)
Damit einher geht eine zunehmende Entkopplung der Reallöhne von der Produktivität. Unternehmen haben in den letzten zwanzig Jahren pro Arbeitsstunde immer mehr verdient. Die Arbeitnehmenden verzeichneten zwar insgesamt ebenfalls einen leichten Zuwachs, allerdings nicht annähernd im gleichen Ausmass. Diese Entkopplung von Produktivität und Reallöhnen hat weitgehende Konsequenzen für die Verteilung und die Konjunktur.
Reallöhne und Produktivität 2003-2023
Bundesamt für Statistik, Berechnungen Travail.Suisse (2), Index (2003=100), 2023* = Prognose mit aktuellen Daten
Reallöhne und Produktivität – das Krokodil öffnet seinen Mund
Solange die Produktivität und die Reallöhne im Gleichschritt wachsen, bleibt die Verteilung zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden bzw. Aktionärinnen und Aktionären konstant. Beide erhalten dank den höheren Verdiensten ihren Anteil – die einen höhere Löhne, die anderen höhere Erträge/Dividenden. Führt hingegen die höhere Produktivität nicht zu einem entsprechenden Anstieg der Reallöhne, dann verändert sich die Verteilung zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden. Der Anteil der Lohnkosten sinkt, während der Anteil der Kapitalerträge steigt. Dies zeigt nachfolgendes fiktives Beispiel (3) :
Lesehilfe: In Jahr 1 hat ein Betrieb 100 Angestellte und erwirtschaftet eine reale Wertschöpfung von 1'000'000 CHF. Allfällige Preissteigerungen bei den zur Produktion notwendigen Güter und Dienstleistungen werden im Beispiel mit der realen Betrachtungsweise abgezogen. Im Jahr 2 erhöht sich die reale Wertschöpfung auf 1'200'000 CHF. Das Unternehmen verdient dadurch mit der gleichen Anzahl an Arbeitnehmenden 1.2 Mal so viel. Im Beispiel bleiben die realen Löhne allerdings konstant. Als Folge davon verdoppelt sich der Kapitalertrag für die Arbeitgebenden bzw. Aktionäre. Wären die Löhne prozentual im gleichen Ausmass gestiegen wie die Kapitalerträge, dann wäre die Verteilung zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebern bzw. Aktionären konstant geblieben.
Die Entkopplung von Reallöhnen und Produktivität führt somit zu einer Umverteilung von den Arbeitnehmenden zu den Arbeitgebenden bzw. den Aktionären. Nun hängt die wirtschaftliche Entwicklung entscheidend davon ab, wie sich die Konsum- und Investitionsausgaben im In- und Ausland entwickeln. Ein grösserer Teil der zusätzlichen Einkommen für die Arbeitgebenden bzw. Aktionäre fliesst in der Regel unproduktiv auf die Finanzmärkte und nicht in reale Investitionen. Die realen Investitionen steigen somit nicht im gleichen Ausmass, wie die Nachfrage nach Konsumgütern und Dienstleistungen sinkt. Dadurch entsteht eine Nachfragelücke. Es wird dank höherer Produktivität zwar mehr produziert, die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen kann damit aber nicht im gleichen Ausmass mithalten. Entsprechend wird die Konjunktur geschwächt, wie dies bereits im Vorfeld der Finanzkrise international, aber auch in der Schweiz der Fall war, wie vorhergehende Grafik zeigt.
Grossteil der Reallohnzuwächse fliessen in Krankenkassenprämien
Häufig wird argumentiert, dass die Arbeitnehmenden in den letzten 20 Jahren, wenn auch nicht in den letzten sieben mageren Jahren, erhebliche Reallohnzuwächse verzeichnet hätten. Tatsächlich verzeichneten die Arbeitnehmenden in den Jahren 2009 bis 2016 bedeutende Reallohnzuwächse. Diese wurden aber hauptsächlich dafür verwendet, die steigenden Krankenkassenprämien und Mieten zu finanzieren, wie folgende Berechnungen illustrieren. Ausgehend von einem mittleren Lohn von rund 6'051 CHF im Jahr 2003 liegt der reale Lohnzuwachs zwischen 2003 und 2023 bei 483 CHF pro Monat. Die höheren Preise beispielsweise für Nahrungsmittel, Kleider oder Benzin werden dabei berücksichtigt. Nicht berücksichtigt werden allerdings die höheren Kosten für die Krankenkassenprämien. Es handelt sich somit um zusätzliche Kosten, welche jenseits der Konsumententeuerung das Haushaltsbudget belasten. Der Anstieg der Krankenkassenprämie für die Grundversicherung lag im gleichen Zeitraum von 2003 bis 2023 für eine Einzelperson bei 167 CHF. Sofern in einer Familie, nennen wir sie Familie Gerber, eine Person für eine vierköpfige Familie mit zwei Kindern unter 18 Jahren alle Krankenkassenprämien finanzieren muss, liegt der Anstieg für die gesamte Familie bei 420 CHF. In diesem Fall wurden somit 87% des gesamten Reallohnzuwachses der letzten 20 Jahre alleine für die zusätzlichen Prämien der Grundversicherungen der Krankenkasse verbraucht.
Was ist mit den Mieten?
Neben den Krankenkassenprämien waren und sind die Mieten ein wesentlicher Kostentreiber für Arbeitnehmende. Es stellt sich die Frage, ob Mietpreiserhöhungen im Konsumentenpreisindex richtig abgebildet werden. Das Bundesamt für Statistik berücksichtigt einen Durchschnitt über alle Mieten. Dadurch werden sowohl Rückgänge bei den Mietpreisen von bestehenden Mietverhältnissen, wie auch höhere Mieten beispielsweise bei neuen Mietverhältnissen abgebildet. Bei Personen, welche in einem jüngeren Mietverhältnis wohnen, sei es, weil sie aus- oder umgezogen sind, wird die Preisentwicklung somit unterschätzt. Bei älteren Personen, welche lange Jahre in der gleichen Wohnung leben, hingegen unter Umständen eher überschätzt. Die Mietpreisentwicklung zwischen Angebotsmieten und dem Mietpreisindex des BfS zeigt die entsprechende Entwicklung. Die Angebotsmieten sind deutlich stärker gestiegen, als dies im Mietpreisindex ausgewiesen wird.
Mietpreisentwicklung Januar 2009-April 2023
Bundesamt für Statistik (Mietpreisindex), Homegate (Angebotsmieten)
Gehen wir davon aus, dass Familie Gerber nach der Geburt des zweiten Kindes in den letzten 10 Jahren eine grössere Wohnung gesucht und auch gefunden hat, dann dürften die Kosten dafür näher bei den Angebotsmieten liegen. Der Mietpreisindex des BfS dürfte hingegen die Kosten für die effektive Miete unterschätzen. Der durchschnittliche Mietpreis für eine 4-Zimmerwohnung von 1’600 CHF, wie ihn das BfS ausweist, dürfte somit deutlich zu tief liegen. Je nach Region, in der Familie Gerber lebt und je nach Zeitpunkt, wann die Familie die neue Wohnung bezogen hat, muss sie dafür – sehr zurückhaltend gerechnet – 5% bis 15% mehr bezahlen, als dies vom Bundesamt für Statistik angenommen wird. Dies entspricht zwischen 80 und 240 CHF pro Monat. Die Durchschnittswerte widerspiegeln somit für viele Personen, welche in den letzten 20 Jahren ein- oder mehrmals die Wohnung gewechselt haben, die Kostensteigerung nicht ausreichend. Zu den 420 CHF höheren Kosten für die Krankenkassenprämien der Grundversicherung kommen somit weitere Kosten von 80 bis 240 CHF für die höheren Mieten hinzu. Somit bleibt Familie Gerber vom Reallohnzuwachs von 483 CHF unter dem Strich nichts übrig. Vielmehr ist das verfügbare Haushaltsbudget in den letzten 20 Jahren geschrumpft.
Wachsende Reallöhne für die Mieten und die Krankenkassenprämien
Unter dem Strich und zugegebenermassen vereinfachend, zeigt sich mit diesem Beispiel, dass der Mittelstand in den letzten 20 Jahren durchaus Reallohnzuwächse erwirtschaften konnte. Wie das Beispiel von Familie Gerber allerdings zeigt, flossen diese in vielen Fällen zu über 100% in die höheren Krankenkassenprämien der Grundversicherung und die höheren Mieten. Familie Gerber hat Ende des Monats nur dann mehr im Portemonnaie, wenn sie mehr arbeitet – so wie dies in den letzten Jahren viele Familien gemacht haben.
Quellen:
1. Die rückläufige Reallohnentwicklung folgt aus der prognostizierten Inflation der Schweizerischen Nationalbank (2.2%) und der Quartalsschätzung der Nominallohnentwicklung durch das Bundesamt für Statistik für das erste Quartal 2023 (1.8%). Dies entspricht einer Prognose mit aktuellen Daten, weshalb das Jahr mit einem * gekennzeichnet ist.
2. Für das Jahr 2022 wurde ein Produktivitätswachstum von 0.8% geschätzt aus der Entwicklung des Arbeitsvolumens (AVOL) und des Bruttoinlandprodukts (SECO). Die rückläufige Reallohnentwicklung folgt aus der prognostizierten Inflation der Schweizerischen Nationalbank (2.6%) und der Quartalsschätzung der Nominallohnentwicklung durch das Bundesamt für Statistik für das erste Quartal 2023 (1.8%). Dies entspricht einer Prognose mit aktuellen Daten, weshalb das Jahr mit einem * gekennzeichnet ist.
3. Vgl. Travail.Suisse (2022): «Grundsätze der Lohnpolitik – Kaufkraft sichern, Produktivitätsgewinne gerecht verteilen und ein hohes Beschäftigungswachstum ermöglichen», Bern.