Die Förderung des inländischen Fachkräftepotenzials ist ein Papiertiger
Immer weniger Leute in der Schweiz zählen sich zu den Erwerbspersonen. Die meisten dieser Personen haben die Arbeit unfreiwillig verlassen. Auch die Erwerbslosigkeit und die Unterbeschäftigung bleiben trotz guter Konjunktur und demographischem Wandel vergleichsweise hoch. Das starke Beschäftigungswachstum nach der Pandemie geht deshalb fast ausschliesslich an den potenziellen inländischen Arbeitnehmenden vorbei. Derweil verschläft Bundesbern die Entwicklung. Die Förderung des inländischen Fachkräftepotenzials ist hier nur noch der Name eines verstaubten Berichts.
Die rekordhohe Beschäftigung in der Schweiz könnte eine gute Nachricht sein. Verglichen mit der Zeit vor der Pandemie im Jahr 2019 sind bis zum dritten Quartal 2023 188'000 neue Vollzeitstellen entstanden. Allerdings geht der Beschäftigungsaufbau fast komplett an den inländischen Arbeitnehmenden vorbei.
Rückzug von der Arbeit im Inland – markante Zunahme der unfreiwillig Nichterwerbstätigen
Die Anzahl an Nichterwerbspersonen hat seit der Pandemie deutlich zugenommen.
Eine Befragung der wichtigsten Gründe für den Rückzug aus der Arbeit im Rahmen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung zeigt, dass vor allem unfreiwillige Ursachen dominieren. Dazu zählen:
- Keine Verlängerung von temporären Arbeitsverträgen
- gesundheitliche Gründe
- freiwillige und unfreiwillige Frühpensionierungen
- Kündigungen
- Kinderbetreuung und
- unbefriedigende Arbeitsbedingungen
Die Erwerbsquote ist trotz der hohen Zuwanderung von Erwerbstätigen rückläufig. Sie zeigt, welcher Anteil an der Bevölkerung im Erwerbsalter arbeitet oder Arbeit sucht. Die Erwerbsquote liegt inzwischen wieder auf dem Niveau des Jahres 2015.
Auch bei der Erwerbslosigkeit und bei der Unterbeschäftigung zeigt sich keine anhaltend gute Situation. Die Erwerbslosigkeit hat nach der Pandemie zwar abgenommen, lag aber im September 2023 (aktuellster Wert) weiterhin bei dem hohen Wert von 220'000 Personen. Vor der Finanzkrise lag dieser Wert bei 150'000 Personen, vor dem Platzen der Dotcom-Blase bei 100'000 Erwerbslosen. Die stetige Zunahme der strukturellen Erwerbslosigkeit löst höchstens noch ein bisschen Schulterzucken aus.
Auch die Unterbeschäftigung – also die Anzahl Erwerbstätiger, welche mehr arbeiten möchte – ist gemäss dem Barometer Gute Arbeit von Travail.Suisse mit 14.4% hoch. Bei einer Zahl von 5.31 Millionen Erwerbstätigen entspricht dies 765'000 Erwerbstätigen, welche gerne mehr arbeiten würden. Damit liegt die Zahl deutlich über den vom Bundesamt für Statistik ausgewiesenen 240'000 unterbeschäftigten Personen.
Die zunehmende Anzahl an Nichterwerbspersonen, die sinkende Erwerbsquote, die anhaltend hohe Erwerbslosigkeit und die Unterbeschäftigung müssten Bundesbern eigentlich längst zum Handeln animiert haben. Aber Bundesrat und Parlament schlafen. Inländisches Fachkräftepotenzial ist für viele nur noch der Name eines Berichts, der – wie so viele andere – einfach ignoriert wird.
Die fünf Säulen des inländischen Arbeitskräftepotenzials
Für die Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials sind fünf Faktoren entscheidend:
- Erhalt der Gesundheit: Gesundheitliche Probleme sind neben den auslaufenden temporären Arbeitsverträgen die wichtigste Ursache für das Ausscheiden aus der Arbeit. Für den Erhalt der Gesundheit sind der Schutz der Arbeits- und Ruhezeiten, der körperlichen Unversehrtheit und der Schutz vor psychosozialen Risiken entscheidend. Das alte Parlament hat sich stark darum bemüht, den Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmenden über eine Liberalisierung des Arbeitsgesetzes zu verschlechtern. Das neue Parlament ist deshalb gefordert, entweder die Hände gänzlich vom Arbeitsgesetz zu lassen oder eine Modernisierung des Arbeitsrechts nicht mit einem Abbau des Arbeitnehmendenschutzes gleichzusetzen. Die Schweiz braucht aber auch einen Aktionsplan psychische Gesundheit. Die starke Zunahme krankheitsbedingter Arbeitsausfälle und psychischer Erkrankungen bei Arbeitnehmenden erfordern nicht nur eine verstärkte Analyse der Ursachen, sondern auch entsprechende Massnahmen.
- Bewältigung des Strukturwandels: Der Wandel der Wirtschaftsstruktur erfordert weitergehende Möglichkeiten der Aus- und Weiterbildung und einen verbesserten Kündigungsschutz für langjährige Mitarbeitende, welcher Arbeitgeber stärker dazu zwingt, Arbeitnehmende in den Betrieben zu halten und für neue Aufgaben zu qualifizieren. Zudem braucht es Massnahmen gegen die Diskriminierung von älteren Arbeitnehmenden bei der Anstellung. Dies wird umso wichtiger, je mehr Rekrutierungen über Maschinen gesteuert werden. Es bleibt aber auch ein wichtiges Thema in häufig eher traditionellen Rekrutierungsverfahren bei KMU. Die AXA-Arbeitsmarktstudie vom Juni 2022 zeigt es klar: in kleinen und mittleren Unternehmen erfolgen Neuanstellungen in der Regel nur bis zum 55. Altersjahr. Arbeitnehmende nach dieser Altersgrenze haben bei Schweizer KMU kaum noch Anstellungschancen. (1) Wer über Fachkräftemangel klagt und ein höheres Rentenalter fordert, kann sich ein solches Verhalten nicht leisten. Die Abschaffung des runden Tisches für die älteren Arbeitnehmenden durch Bundesrat Parmelin im Jahr 2021 war ein grundlegender Fehler. Die Arbeitgebenden haben es sich seither wieder bequem eingerichtet.
- Löhne und Arbeitsbedingungen: Der Schutz der berufs-, branchen- und ortsüblichen Löhne gelingt in Branchen ausserhalb von Gesamtarbeitsverträgen nur ungenügend. Zwar sehen die flankierenden Massnahmen vor, dass bei wiederholten missbräuchlichen Lohnunterbietungen Gesamtarbeitsverträge allgemeinverbindlich erklärt oder Normalarbeitsverträge erlassen werden. Dies ist bisher aber ausserhalb der Kantone Genf und Tessin kaum geschehen. Missbräuche werden zwar festgestellt, aber keine Massnahmen ergriffen. Mehrheiten aus Arbeitgebenden und öffentlicher Hand verhindern in den tripartiten Kommissionen einen wirksameren Lohnschutz in Branchen ohne Gesamtarbeitsverträge. Soll eine Verdrängung inländischer Arbeitnehmender verhindert werden, so gilt es, den Lohnschutz auch ausserhalb der GAV-Branchen deutlich zu verbessern. Zudem ist auffällig, wie laut im Gesundheitswesen und im Gastgewerbe auch weiterhin nach Fachkräften gerufen wird, nachdem über Jahre die Arbeitsbedingungen offensichtlich so problematisch waren, dass viele Arbeitnehmende die Branchen verlassen haben. (2) Der Schutz der Arbeitsbedingungen ist auch ein Schutz des inländischen Fachkräftepotenzials.
- Vereinbarkeit, Teilzeitarbeit, Wiedereinstieg: Das alte Parlament hat einen Kompromiss zur Finanzierung der familienexternen Kinderbetreuung vor den Wahlen weiter verzögert. Dies, obwohl eine verfügbare und bezahlbare familienexterne Kinderbetreuung für die Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials ein entscheidender Faktor ist. Auch bei der Förderung des Wiedereinstiegs von Müttern zeigt die Bundesverwaltung trotz eines vom Parlament angenommenen Postulats keinen Handlungswillen. Während die Teilzeitarbeit der öffentlichen Kritik ausgesetzt ist, obwohl sie für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine grosse Bedeutung hat, nutzen immer mehr Arbeitgebende die Teilzeitarbeit zur Förderung einer maximalen Flexibilität. Immer mehr Arbeitnehmende, welche Vollzeit arbeiten möchten werden nur noch Teilzeit angestellt. Das Arbeitsrecht sieht nämlich vor, dass Teilzeitangestellte genau den gleichen Höchstarbeitszeiten unterliegen wie Vollzeitangestellte. Dadurch können sie auch bei Teilzeitanstellungen die Arbeitszeit weit über die vereinbarten Wochenstunden hinaus ausdehnen. Maximale Flexibilität bei verminderten Kosten sind das Geschenk an die Arbeitgebenden, und die Unterbeschäftigung der Preis den Arbeitnehmende dafür bezahlen.
- Ermöglichung einer Grundbildung: Ohne Berufsabschluss ist eine nachhaltige Integration in den Arbeitsprozess kaum mehr möglich. Die hohe Zuwanderung von Personen aus Nicht-EU-Ländern erfordert verbesserte Möglichkeiten zum Abschluss einer Berufsbildung. Dieser kann über verschiedene Wege gefördert werden und erfordert auch ein Umdenken der Arbeitgebenden in der Berufsbildung. Vermehrt müssen unbesetzte Lehrstellen auch an Erwachsene ohne berufliche Grundbildung vergeben werden. Zudem muss der Berufsabschluss für Erwachsene in allen Kantonen und in deutlich mehr Berufen als bisher möglich werden. Bisher haben nur wenige Kantone ihre diesbezüglichen Aufgaben befriedigend erfüllt. Etwa 500'000 Personen haben in der Schweiz keinen anerkannten Berufsabschluss. Davon wären mindestens 300'000 Personen geeignet für einen Berufsabschluss für Erwachsene. Allerdings erfolgen nach wie vor viel zu wenig Abschlüsse. Deshalb braucht es eine klare Zieldefinition, wie viele Berufsabschlüsse erreicht werden sollen und entsprechende Massnahmen.
Trotz anhaltend guter Konjunktur, Fachkräftemangel und demographischem Wandel sinkt die Anzahl an inländischen Arbeitnehmenden, welche sich als Teil der Erwerbspersonen sehen. Die Erwerbsquote sinkt, Erwerbslosigkeit und Unterbeschäftigung bleiben hoch. Damit verschläft Bundesbern nicht nur die Chancen der guten Konjunktur und des demographischen Wandels, sondern schlichtweg die Zeichen der Zeit.
Quellen:
[1] Sotomo (2022): «AXA KMU-Arbeitsmarktstudie», Befragungsstudie Juni 2022, Zürich.
[2] Obsan (2021): «Berufsaustritte und Bestand von Gesundheitspersonal in der Schweiz – eine Analyse auf Basis der Strukturerhebungen 2016-2018», Obsan Bericht 01/2021.