Gestaltungsspielräume, Mitwirkung und klare Grenzen – nicht unbegrenzte Flexibilität
In einer neuen Publikation fasst das Bundesamt für Statistik verschiedene Indikatoren zur Qualität der Beschäftigung in der Schweiz für die letzten 10 Jahren zusammen. Sie bestätigen langsame, aber bedeutende Veränderungen in der Arbeitswelt. Mehr Flexibilität geht einerseits mit grösseren Gestaltungsspielräumen einher, andererseits aber auch mit mehr Prekarität und zunehmenden Risiken von verschwimmenden Grenzen zwischen Privat- und Berufsleben. Entsprechend entstehen neue wirtschaftliche und gesundheitliche Risiken für Arbeitnehmende. Die Politik fördert diese Risiken, statt ihnen entgegenzuwirken.
Das Bundesamt für Statistik fasst in regelmässigen Abständen verschiedene Indikatoren zur Qualität der Beschäftigung zusammen. Zuletzt wurde ein Vergleich der Entwicklung für die letzten 10 Jahre veröffentlicht. Mit Ergänzungen aus anderen Studien und Datenquellen lassen sich dabei verschiedene Entwicklungen aufzeigen, so etwa zur Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen.
Flexibilisierung mit sehr unterschiedlichen Gesichtern
Wie die Publikation des BfS zeigt, nimmt die Flexibilität bei der Arbeit zu. Diese Flexibilität hat jedoch sehr unterschiedliche Gesichter. So haben flexible Arbeitszeiten etwa mit Wochen- und Monatsarbeitszeiten oder Blockzeiten deutlich zugenommen (+5 Prozentpunkte). Zudem arbeiten 2023 deutlich mehr Arbeitnehmende zumindest gelegentlich im Homeoffice als noch 2017 (+11 Prozentpunkte). Die zunehmende Flexibilität hat aber auch ein anderes Gesicht. Befristete Anstellungen, Mehrfachbeschäftigung oder Arbeit auf Abruf haben zum Teil deutlich an Bedeutung gewonnen. So arbeiteten im Jahr 2023 8 Prozent der Arbeitnehmenden auf Abruf, 7 Prozent der Arbeitnehmenden hatten eine befristete Anstellung und 8 Prozent arbeiteten in mehreren Beschäftigungsverhältnissen. GrenzgängerInnen und Kurzaufenthalter:innen werden dabei in den BfS-Daten nicht mitberücksichtigt, weil sie nicht zur ständigen Wohnbevölkerung zählen. Bei ihnen zeigt sich deutlich, dass ein Teil der Flexibilität ausgelagert wird. So stieg beispielsweise allein die Zahl der meldepflichtigen Kurzaufenthalter.innen im Personalverleih zwischen 2005 und 2023 um 284 Prozent auf 55‘360 Personen.[1] Flexibilität hat somit nicht nur sehr unterschiedliche Gesichter, sie betrifft unterschiedliche Arbeitnehmende auch auf sehr unterschiedliche Weise. Dementsprechend wird sie von den Arbeitnehmenden auch sehr unterschiedlich bewertet. Es zeugt von Kurzsichtigkeit und einer durchsichtigen Strategie, dass die Arbeitgeberseite keine Unterscheidung zwischen diesen unterschiedlichen Formen der Flexibilität macht.
Ungeliebte Flexibilität – geschätzte Gestaltungsspielräume
Eine neue Studie der Arbeitsmarktbeobachtung AMOSA verdeutlicht denn auch, dass temporäre Verträge, Arbeit über einen Personalverleih und Arbeit auf Abruf von einer Mehrheit der Arbeitnehmenden nicht erwünscht ist, auch wenn sie von den betroffenen Arbeitnehmenden mangels Alternativen akzeptiert wird. So geben 74% der temporär beschäftigten Arbeitnehmenden an, dass sie lieber eine Festanstellung hätten. Nur gerade 16 Prozent sind mit der temporären Anstellung zufrieden. Bei den befristet Angestellten würden 63 Prozent lieber unbefristet arbeiten, während 21 Prozent damit zufrieden sind. 72 Prozent der Arbeitnehmenden, die auf Abruf arbeiten, hätten lieber eine Anstellung mit einer festen Anzahl an Arbeitsstunden. Gerade einmal 18 Prozent der Arbeitnehmenden mit einer Arbeit auf Abruf sind mit diesem Modell zufrieden. Weniger eindeutig ist die Situation einzig bei den Mehrfachbeschäftigten, von denen fast die Hälfte lieber nur eine Anstellung hätte. 46% hingegen sind mit mehreren Stellen zufrieden. Während Arbeitnehmende die Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, häufig positiv bewerten, weil sie sich dadurch etwa den Arbeitsweg sparen können und ihre Arbeit in Ruhe selbst einteilen können, ist dies bei anderen flexiblen Arbeitsformen wie z.B. befristeten Arbeitsverträgen, Arbeit auf Abruf oder Mehrfachbeschäftigung somit nur selten der Fall. Entscheidende Unterschiede liegen in den Gestaltungsspielräumen der Arbeitnehmenden, der Zeitsouveränität und den Mitwirkungsmöglichkeiten. Diese sind bei Arbeit auf Abruf in der Regel praktisch gleich null. Im Homeoffice hingegen je nach Ausgestaltung relativ hoch.
Flexibilität, Leistungsdruck und neue Gesundheitsrisiken
Gestaltungsspielräume und Mitwirkungsmöglichkeiten sind wichtig, helfen aber wenig, wenn die Arbeitsmenge, das Arbeitstempo und die Arbeitsintensität sehr hoch sind. Dass der Leistungsdruck in der Schweiz sehr hoch ist, zeigen beispielsweise Studien, die einen europaweiten Vergleich ermöglichen. Die Schweiz weist ein im europäischen Vergleich weit überdurchschnittliches Arbeitstempo, einen hohen Termindruck und einen hohen Anteil von Arbeitnehmenden auf, welche in der Freizeit arbeiten, um die Arbeitsanforderungen zu erfüllen. Mit diesem teilweise hohen Druck bei der Arbeit sind neue Gesundheitsrisiken für Arbeitnehmende verbunden. Durch den gleichzeitigen Rückgang der körperlichen Risiken zeigt sich dabei auch ein Wandel bei den Gesundheitsrisiken für Arbeitnehmende. Die Publikation des Bundesamts für Statistik deutet diesen Wandel zumindest an. Einerseits waren im Jahr 2022 etwas weniger Arbeitnehmende von erhöhten körperlichen Risiken betroffen als noch vor 10 Jahren. Andererseits stieg im gleichen Zeitraum die Anzahl der Arbeitnehmenden, deren Privatleben durch die Arbeit stark oder sehr stark beeinträchtigt wird. Damit bestätigt die Publikation des BfS andere Studien. So gaben in der CSS Gesundheitsstudie 43 Prozent der Befragten an, dass die Arbeit zunehmend in die Freizeit übergreift, wovon 74 Prozent der Befragten angaben, dass sie dies belastet. Die zunehmende Flexibilität der Arbeitsformen führt somit unter anderem zu verschwimmenden Grenzen mit entsprechenden gesundheitlichen Risiken, insbesondere dem Risiko der Überarbeitung oder Überbeanspruchung. Diese Risiken können grundsätzlich in verschiedenen Arbeitsformen auftreten. So können sowohl Arbeitnehmende mit einer hohen Arbeitslast und vielen Überstunden ebenso betroffen sein wie Arbeitnehmende, die auf Abruf arbeiten oder Arbeitnehmende mit hoher Arbeitslast im Homeoffice. Der Gestaltungsspielraum schützt in diesem Fall nur beschränkt, da er bei sehr hoher Arbeitslast zunehmend an Bedeutung verliert.
Diesem Umstand trägt etwa die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats bei ihrem Vorschlag für die Regulierung von Homeoffice mit einer Ausdehnung des Zeitraums, in dem gearbeitet werden kann oder muss, auf 17 Stunden nur ungenügend Rechnung. Bei einer hohen Arbeitslast verbunden mit entsprechenden Erwartungen und einer sehr hohen Loyalität der Arbeitnehmenden – wie sie die Erhebung des BfS ebenfalls ausweist – kann so trotz Gestaltungsspielräumen die Gesundheit der Arbeitnehmenden kaum noch ausreichend geschützt werden.
Steigerungslogik in der Dienstleistungsgesellschaft
Im Hintergrund der Diskussionen um die Flexibilisierung der Arbeitsgesetzgebung vollzieht sich hingegen seit längerem eine grössere Bewegung. Aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels arbeiten immer mehr Arbeitnehmende in Branchen mit beschränktem Produktivitätssteigerungspotenzial: Vom Gesundheitswesen, der Bildung, über den Detailhandel, dem Gastgewerbe bis hin zum Baugewerbe.[2] Offenbar nicht zuletzt deshalb versuchen die Parlamentsmehrheit und die Arbeitgeberseite seit geraumer Zeit, den Arbeitnehmenden mehr Arbeit und mehr Produktivität abzuringen, indem sie einerseits die gesamtwirtschaftliche Arbeitszeit ausdehnen und andererseits das Arbeitsrecht und die Arbeitsbedingungen liberalisieren. Damit haben sie aber nicht nur den falschen Gesetzestext in die Hand genommen. Denn nachhaltige Produktivitätssteigerungen haben ihre Grundlage in technologischen Fortschritten und unternehmerischen Lernprozessen und nicht in einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Sie wagen dadurch aber auch ein gefährliches Spiel mit der Gesundheit der Arbeitnehmenden und stellen erkämpfte Fortschritte bei den Arbeitsbedingungen in Frage. Damit dürfte bei vielen Arbeitnehmenden der Glaube an die Bedeutung von Produktivitätssteigerungen und Wirtschaftswachstum als Grundlage für ein gutes Leben zunehmend schwinden. Die aktuellen Gesetzesrevisionen aus dem Parlament im Bereich Homeoffice [3], Sonntagsarbeit [4], sowie der radikale, aber in der Kommission mehrheitsfähige Vorschlag von Jürg Grossen [5] hinsichtlich der Selbständigkeit von Arbeitnehmenden stehen exemplarisch für diesen Irrweg. Es kann deshalb nicht deutlich genug gesagt werden: It’s not the labor law, stupid!
Quellen
[1] Zahlen zu den meldepflichtigen Kurzaufenthaltern finden sich in den FlaM-Berichten zur Umsetzung der flankierenden Massnahmen zum freien Personenverkehr Schweiz-Europäische Union.
[2] Baumol W. (2012): «The Cost disease – Why Computers get cheaper and health care doesn’t», London.
[3] Parlamentarische Initiative Burkart («Mehr Gestaltungsfreiheit im Homeoffice») mit einer Ausdehnung des Zeitraums der Tages- und Abendarbeit auf 17 Stunden, bewilligungsfreier Sonntagsarbeit an 6 Sonntagen pro Jahr, der Reduktion der täglichen Ruhezeit auf 9 Stunden und der Möglichkeit die Ruhezeit zu unterbrechen. Gleichzeitig soll ein Recht auf Nichterreichbarkeit eingeführt werden.
[4] Standesinitiative Kanton Zürich («Zeitlich befristete Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten») für 12 Weihnachtsverkäufe
[5] Die parlamentarische Initiative Grossen («Selbstständigkeit ermöglichen, Parteiwillen berücksichtigen») sieht in der aktuellen Fassung vor, dass bei der Beurteilung, ob Arbeitnehmende selbständig sind oder nicht, die Abmachung zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebern das entscheidende Kriterium ist. Dadurch würden insbesondere die soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit, Unfall und Krankheit, sowie der Schutz der Lohn- und Arbeitsbedingungen weitgehend in Frage gestellt. Sie bezieht sich nicht direkt auf das Arbeitsgesetz, hat aber unter anderem weitreichende Folgen auf dieses.