Die Schweiz darf sich nicht 25‘000 Aussteuerungen pro Jahr leisten
Trotz guter Konjunktur wurden in der Schweiz im letzten Jahr 25‘000 Stellensuchende ausgesteuert. Zwar sind fünf Jahre nach der Aussteuerung zwei Drittel der Betroffenen wieder erwerbstätig. Ihre effektiven Einkommen liegen dabei allerdings um bis zu 40% tiefer als vor der Aussteuerung. Zudem sind die Arbeitsbedingungen häufig unsicher. Während eine Aussteuerung für ehemalige Kader einen starken sozialen Abstieg nach sich zieht, führt sie für Arbeitnehmende mit tiefen und mittleren Einkommen in die Prekarität. Dies zeigt eine Spezialauswertung des Bundesamts für Statistik im Auftrag von Travail.Suisse. Mit innenpolitischen Massnahmen könnte das Ausmass dieses Missstands deutlich reduziert werden.
In der Schweiz verlieren pro Jahr 25‘000 Stellensuchende ihr Recht auf Taggelder der Arbeitslosenversicherung. Sie können sich somit zwar weiterhin auf einem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) registrieren lassen, erhalten aber keine Taggelder der Arbeitslosenversicherung mehr. Sie müssen sich somit finanziell entweder selber über Wasser halten oder bei der Sozialhilfe vorstellig werden. Schaut man sich die Aussteuerungen nach dem Alter an, so zeigt sich ab dem 30. Altersjahr ein stetiger Anstieg der Wahrscheinlichkeit einer Aussteuerung. Am grössten ist die Wahrscheinlichkeit bei Stellensuchenden zwischen 55 und 64 Jahren. Im Jahr 2023 kam auf fünf Stellensuchende in dieser Altersgruppe eine Aussteuerung. Und dies trotz einem bedeutenden Beschäftigungswachstum und trotz demographischem Wandel. So wurden etwa zwischen dem 4. Quartal 2022 und dem 4. Quartal 2023 91‘362 Stellen neu geschaffen. Hinzu kommt, dass die Zahl der Personen, die das 65. Altersjahr erreichten, mit über 100‘000 deutlich höher lag als die Zahl der Personen, die die obligatorische Schule verliessen (86‘000). Die Pensionierungen liegen damit höher als die Neueintritte junger Personen in die Arbeitswelt.
Sind Aussteuerungen gar nicht so schlimm?
Das Bundesamt für Statistik hat Mitte November 2024 neue Zahlen zu den ausgesteuerten Personen veröffentlicht. (1) Sie zeigen unter anderem, dass etwa die Hälfte der Ausgesteuerten ein Jahr nach der Aussteuerung wieder erwerbstätig war. Im fünften Jahr nach der Aussteuerung waren es sogar zwei Drittel der Ausgesteuerten. Demgegenüber sind fünf Jahre nach der Aussteuerung 15% der Ausgesteuerten weiterhin erfolglos auf Stellensuche, während sich 19% vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben. Von diesen Nichterwerbspersonen wären 40% allerdings sofort bereit, wieder eine Arbeit aufzunehmen. Dieser hohe Anteil an Rückkehrenden relativiert auf den ersten Blick die hohe Zahl von 25‘000 Aussteuerungen ein weinig. Ein genauerer Blick auf die wirtschaftliche Situation von vormals ausgesteuerten und nun wieder erwerbstätigen Arbeitnehmenden zeigt aber, dass der Wiedereinstieg in die Arbeit nach einer Aussteuerung mit hohen Kosten verbunden ist.
Hohe Einkommensverluste durch tieferen Lohn und tieferes Arbeitspensum
Arbeitnehmende, die ihre Stelle verloren haben, ausgesteuert wurden und nach der Aussteuerung wieder eine Stelle finden, tun dies in der Regel mit bedeutenden finanziellen Einbussen und deutlich häufiger in unsicheren Arbeitsverhältnissen. So arbeiten etwa 15% der wieder Erwerbstätigen in einem befristeten Arbeitsverhältnis (Durchschnitt aller Erwerbstätigen 8%), 14% arbeiten auf Abruf (Durchschnitt aller Erwerbstätigen 8%).
Bedeutend sind auch die finanziellen Einbussen. Sie resultieren einerseits aus tieferen Löhnen und andererseits aus einer häufig unfreiwilligen Reduktion des Arbeitspensums. Letzteres sinkt im Durchschnitt um 10 Prozentpunkte von 84% auf 74%. Die Einkommenseinbusse liegt dadurch effektiv deutlich höher, als dies vom Bundesamt für Statistik in der Publikation ausgewiesen wird, da diese ein volles Arbeitspensum unterstellt. Eine zusätzliche Auswertung des BfS im Auftrag von Travail.Suisse zeigt nun, wie sich die Reduktion von Arbeitspensum und Löhnen effektiv auf das Einkommen in verschiedenen Berufsgruppen auswirkt. Über alle Berufsgruppen hinweg sinkt das erzielte Einkommen nach der Aussteuerung im Durchschnitt effektiv um 33 Prozent.
Führungskräfte
Besonders gross ist die Fallhöhe beim Einkommen von ehemaligen Führungskräften, die nach der Aussteuerung wieder erwerbstätig sind. Sie verdienen nach der Aussteuerung effektiv in ihrer neuen Stelle im Durchschnitt 50‘000 Franken weniger als in ihrer letzten Stelle vor der Aussteuerung. Mit gut 80‘000 Franken liegen sie damit aber immer noch etwa in der Mitte aller Löhne der Erwerbstätigen. Sie verzeichnen somit nach einer Aussteuerung vor allem einen bedeutenden sozialen Abstieg.
Techniker und Büroberufe
In der Mitte der Lohnverteilung lagen vor der Aussteuerung Techniker und gleichrangige nichttechnische Berufe. Dazu gehören etwa ingenieurtechnische Fachkräfte, Sicherheitskontrolleure, Bediener elektronischer Anlagen oder auch Verkaufsfachkräfte. Sie verfügen in der Regel über eine Berufsausbildung oder einen Studienabschluss. Mit durchschnittlich 83‘556 Franken erzielten sie ein mittelständisches Jahreseinkommen. Nach der Aussteuerung und der Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit in einem neuen Beruf liegen die effektiven Löhne um durchschnittlich 25‘650 Franken tiefer. Ein vergleichbares Bild zeigt sich bei den Büroberufen. Der Rückgang des Lohnes um durchschnittlich 18‘000 Franken auf einer neuen Stelle nach der Aussteuerung führt dazu, dass diese Arbeitnehmenden zwölf Mal im Jahr einen Monatslohn von gerade mal noch 4‘500 Franken erhalten. Mit diesen Monatseinkommen wird es für ehemals mittelständische Arbeitnehmende aus Technik- oder Büroberufen ziemlich anspruchsvoll bis unmöglich, eine Familie zu ernähren.
Dienstleistungsberufe und Verkauf
Die Löhne in verschiedenen vor allem personenbezogenen Dienstleistungsberufen und im Verkauf sind für viele Arbeitnehmende bereits bei einem normalen Arbeitspensum nicht besonders hoch. Der effektiv erzielte Lohn beträgt vor der Aussteuerung durchschnittlich knapp 50‘000 Franken. In einer neuen Erwerbstätigkeit und nach einer Aussteuerung sinkt der effektiv erzielte Lohn durch das tiefere Arbeitspensum und den tieferen Lohn auf durchschnittlich noch 38‘000 Franken pro Jahr. Das sind noch etwas mehr als 3’000 Franken pro Monat. Der Verlust eines Viertels des Einkommens nach der Aussteuerung führt somit je nach Haushaltssituation direkt in die Prekarität.
Diese Beispiele zeigen, dass eine Rückkehr in das Erwerbsleben nach einer Aussteuerung derzeit zwar gar nicht so unwahrscheinlich ist, vor allem wenn diese noch nicht so lange zurückliegt. Der Preis, den Arbeitnehmende bei einer Aussteuerung bezahlen, ist dabei allerdings sehr hoch. Er heisst sozialer Abstieg bis hin zur Prekarität.
Was tun?
Die Schweiz kann es sich nicht leisten, jedes Jahr 25‘000 Stellensuchende auszusteuern und als Folge davon teilweise zu prekarisieren. Für die Stärkung des inländischen Arbeitskräftepotenzials, aber vor allem für die Stärkung der politischen und sozialen Schweiz, braucht es deshalb wirksame Massnahmen, damit alle Arbeitnehmenden mit einer angemessenen Arbeit ihren Beitrag zur Gesellschaft leisten und wirtschaftlich auf den eigenen Beinen stehen können. Dazu braucht es wirksame Massnahmen, darunter die nachfolgenden vier:
Bedarfsgerechte Vermittlung und Qualifikation
Die öffentliche Arbeitsvermittlung hat mit ihrer neuen Strategie einen ersten Schritt in die richtige Richtung gemacht. Die Vermittlung soll dadurch unter anderem individueller und bedarfsgerechter ausgestaltet werden. Zudem erhalten Stellensuchende bei Bedarf vermehrt auch Möglichkeiten zur Aus- und Weiterbildung. Der Umsetzung dieser Strategie muss eine hohe Priorität beigemessen werden. Sie hat das Potenzial, in Zukunft die Arbeitsvermittlung deutlich erfolgreicher zu machen und dadurch Aussteuerungen zu verhindern.
Mehr Schutz für ältere Arbeitnehmende – mehr Verantwortung für Arbeitgebende
Ältere Arbeitnehmende müssen deutlich besser gegen Entlassungen geschützt werden. Sie sind am meisten von Aussteuerungen bedroht. Dazu braucht es eine erhöhte Fürsorgepflicht für Arbeitgebende. Entlassungen sollen dadurch ab einem gewissen Alter verhindert werden. Für ältere Arbeitnehmende müssen – wie in der Vergangenheit – möglichst betriebliche Lösungen anstelle von Entlassungen gefunden werden. Zudem braucht es Anpassungen bei der Überbrückungsleistung für ältere Arbeitslose, damit sie älteren Arbeitslosen einen ernsthaften Schutz bietet. Ältere Arbeitslose sollen auch bei einer Aussteuerung nicht von der Sozialhilfe abhängig werden.
Ernsthafte Chancen auf eine dauerhafte und nicht prekäre Rückkehr für Ausgesteuerte
Es braucht verstärkte Massnahmen, damit ausgesteuerte Personen zurück in den Arbeitsmarkt geholt werden können. Die Arbeitslosenversicherung kann heute ausgesteuerten Personen beispielsweise keine Ausbildungs- oder Einarbeitungszuschüsse zusprechen. Damit eine Rückkehr in die Erwerbsarbeit möglich wird, auch ohne Prekarisierung, sind entsprechende Massnahmen auch für ausgesteuerte Personen vorzusehen. Wir brauchen eine Schweiz der zweiten und dritten Chance.
Nachhaltige Perspektiven für junge Stellensuchenden
Zwar sind junge Stellensuchende weniger stark von Aussteuerungen betroffen. Gleichzeitig tragen sie die Folgen unter Umständen ein Leben lang mit sich. Mit der 4. AVIG-Revision wurden die Leistungen für junge Stellensuchende empfindlich reduziert. Als Folge davon ist der Anteil von auf den RAV registrierten jungen Stellensuchenden stark zurückgegangen. Junge ausgesteuerte Stellensuchende werden dadurch von der öffentlichen Arbeitsvermittlung zu selten erfasst und vermittelt. Eine Rücknahme dieser Leistungsreduktion für junge Stellensuchende ermöglicht eine bessere und vor allem nachhaltige Integration in den Arbeitsmarkt. Sie hat einen langfristigen positiven Einfluss auf die Perspektiven junger Arbeitnehmender und auf das inländische Arbeitskräftepotenzial. Aufgrund der finanziellen Situation der Arbeitslosenversicherung ist sie zudem gut tragbar.
Die Aussteuerung von zuletzt jährlich 25‘000 Personen ist mit Blick auf das hohe Beschäftigungswachstum und die starke Zuwanderung menschlich und politisch untragbar. Tatsächlich ist es möglich, mit verstärkten innenpolitischen Massnahmen diesen Missstand zu reduzieren. Dafür braucht es aber den entsprechenden politischen Willen.
(1) Bundesamt für Statistik (2024): «Situation der ausgesteuerten Personen», Neuenburg.