Erschöpfte und psychisch kranke Arbeitnehmende– neue Zahlen und Erkenntnisse
Arbeitsbedingter Stress und Erschöpfung nehmen bei Arbeitnehmenden kontinuierlich zu. Zudem zeigt sich auch für die Schweiz immer deutlicher, dass arbeitsbedingter Stress, Erschöpfung und psychische Erkrankungen teilweise zusammenhängen. Dies belegen verschiedene neue Zahlen und Studien. Dennoch wird der Faktor Arbeitsbedingungen im Zusammenhang mit Gesundheitskosten oder Fachkräftemangel politisch zu oft tabuisiert.
Arbeitsbedingter Stress nimmt stetig zu, wie eine neue Auswertung aus der Schweizerischen Gesundheitsbefragung zeigt. Demnach erleben 23% der Arbeitnehmenden meistens oder immer Stress bei der Arbeit. Dies entspricht einer Zunahme um 28% innerhalb von 10 Jahren. Dabei liegt der ausgewiesene Wert verglichen mit anderen Untersuchungen noch vergleichsweise tief. Im «Barometer Gute Arbeit», einer repräsentativen Umfrage von Travail.Suisse und der Berner Fachhochschule, geben rund 40% der Arbeitnehmenden an, häufig mit arbeitsbedingtem Stress konfrontiert zu sein. (1) Keine Unterschiede zwischen den beiden Untersuchungen gibt es hingegen bei der Entwicklung des Stressindikators. Er zeigt seit mehreren Jahren in beiden Befragungen fast stetig nach oben. Immer mehr Arbeitnehmende sind bei der Arbeit gestresst.
Die Hälfte der Arbeitnehmenden im Gesundheitswesen und im Baugewerbe ist erschöpft
Stress gehört teilweise zur Arbeit und er ist nicht grundsätzlich schädlich. Problematisch ist Stress dann, wenn Arbeitnehmende sehr häufig oder immer damit konfrontiert sind und sich nicht mehr erholen können. In diesem Fall führt arbeitsbedingter Stress zu Erschöpfung und gefährdet die Gesundheit der Arbeitnehmenden. Im Rahmen der repräsentativen Erhebungen des «Barometer Gute Arbeit» von Travail.Suisse wird auch die Erschöpfung von Arbeitnehmenden nach Branchen erfasst. Die Resultate zeigen, dass die Hälfte der Arbeitnehmenden im Gesundheitswesen und im Baugewerbe nach der Arbeit zu erschöpft ist, um sich noch um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern. Auch im Unterrichtswesen, im Gastgewerbe, im Detailhandel, in der Landwirtschaft und in der Industrie ist dieser Anteil überdurchschnittlich und erschreckend hoch (vgl. Grafik).
Anteil erschöpfter Arbeitnehmender nach Branche – überdurchschnittliche Werte
Barometer Gute Arbeit 2023, Anteil in %
Die Frage lautet: Wie häufig kommt es vor, dass Sie nach der Arbeit zu erschöpft sind, um sich noch um private oder familiäre Angelegenheiten zu kümmern? Die Grafik zeigt den Anteil der Beschäftigten, die sehr häufig oder oft zu erschöpft sind.
Körperliche und emotionale Erschöpfung – auffälliger Unterschied im Baugewerbe
Vor allem im Baugewerbe zeigt sich ein auffälliger Unterschied zu den Resultaten aus der Schweizerischen Gesundheitsbefragung. Diese erfasst nur die emotionale und nicht die körperliche Erschöpfung der Arbeitnehmenden. Der Barometer Gute Arbeit hingegen unterscheidet nicht zwischen emotionaler und körperlicher Erschöpfung. Es stellt sich die Frage, ob emotionale Erschöpfung anders zu bewerten ist als körperliche Erschöpfung. Als Hinweis darauf kann ein weiterer Indikator aus dem Barometer Gute Arbeit herangezogen werden. Er zeigt, ob die Erschöpfung von den Arbeitnehmenden als belastend empfunden wird. Grundsätzlich wäre es möglich, dass Arbeitnehmende im Baugewerbe ihre Erschöpfung als weniger schlimm erachten, weil sie körperlich und nicht emotional ist. Dies ist jedoch nicht der Fall. Von den Arbeitnehmenden im Baugewerbe, die sehr häufig oder oft erschöpft sind, geben über 80% der Befragten an, dass sie die Erschöpfung stark oder eher stark belastet. Damit liegt das Baugewerbe weit über dem Durchschnitt. Die alleinige Fokussierung auf die emotionale Erschöpfung, wie sie von der Gesundheitsbefragung vorgenommen wird, ist somit offensichtlich verkürzt und berücksichtigt die körperliche Erschöpfung unzureichend.
Psychische Erkrankung – ein Drittel könnte durch die Arbeit verursacht sein
Im Jahr 2023 entfiel die Hälfte aller Neurenten in der Invalidenversicherung auf psychische Erkrankungen. Vor 20 Jahren lag dieser Anteil noch unter 40%. Dies ist einerseits auf die effektive Zunahme der Neurenten aufgrund von psychischen Erkrankungen und Erkrankungen des Nervensystems zurückzuführen, andererseits aber auch auf den Rückgang der Renten aufgrund von körperlichen Erkrankungen oder Unfällen. Dies verdeutlicht, dass sich die Gesundheitsrisiken stark verändert haben. Aus der Perspektive des Gesundheitsschutzes von Arbeitnehmenden stellt sich deshalb unter anderem die Frage, inwieweit die Arbeit oder spezifische Arbeitsbedingungen zu dieser starken Zunahme psychischer Erkrankungen beitragen. Einen Beitrag dazu leistet eine neue Studie für die Schweiz, welche die Zusammenhänge zwischen spezifischen Arbeitsbedingungen und psychischen Erkrankungen untersucht. (2) Sie basiert auf den Daten der Gesundheitsbefragung, wobei die eingangs erwähnten Daten für das Jahr 2022 noch nicht berücksichtigt wurden. Die Studie identifiziert verschiedene Risikofaktoren, die sich negativ auf die mentale Gesundheit von Arbeitnehmenden auswirken. Dazu gehören Stress, Konflikte bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie, schmerzhafte Körperhaltungen, Arbeitsunterbrechungen, fehlende Anerkennung und Unterstützung bei der Arbeit oder Diskriminierung und Gewalt am Arbeitsplatz. Die Risikofaktoren unterscheiden sich dabei je nach Branche. Im Gastgewerbe und im Gesundheitswesen, den beiden Branchen mit den höchsten Risiken, bilden Stress, schmerzhafte Körperhaltungen und die Vereinbarkeit der Arbeitszeiten mit dem Familienleben zentrale Risikofaktoren. Die Studie kommt zum Schluss, dass insgesamt rund ein Drittel aller psychischen Probleme von Arbeitnehmenden auf die Arbeitsbedingungen zurückzuführen sein könnten.
Fazit: Ein Schuss ins eigene Bein
Der arbeitsbedingte Stress nimmt weiter zu, die Erschöpfung der Arbeitnehmenden steigt und dürfte mit ein Grund sein dafür, dass psychische Erkrankungen zunehmen. Dies ist zu einem wesentlichen Teil auf spezifische Arbeitsbedingungen zurückzuführen, die ein Gesundheitsrisiko für Arbeitnehmende darstellen. Viele dieser Arbeitsbedingungen können klar benannt werden und sind kein Naturgesetz (vgl. Positionspapier von Travail.Suisse zu «Stress und Erschöpfung bei Arbeitnehmenden»). In der politischen Diskussion aber wird der Aspekt der Arbeit jedoch tabuisiert, beispielsweise bei den Gesundheitskosten, im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel oder bei der Diskussion um die psychische Gesundheit. So werden ohne mit der Wimper zu zucken Liberalisierungen im Arbeitsgesetz vorangetrieben, Erhöhungen der Arbeitszeit und ein höheres Rentenalter gefordert, ohne zu erkennen, dass sich die Schweiz damit ins eigene Bein schiesst.
Quellen:
- Der Unterschied in den Resultaten der beiden Befragungen dürfte aus den unterschiedlichen Fragestellungen resultieren. Die Gesundheitsbefragung fragt danach, ob Arbeitnehmende bei der Arbeit meistens oder immer mit Stress konfrontiert sind, der Barometer Gute Arbeit hingegen ob Arbeitnehmende häufig mit Stress konfrontiert sind bei der Arbeit.
- Scholz-Odermatt, S. und A. Zyska Cherix (2024): «Work-Related Mental Health Problems in Switzerland», Journal of Occupational and Environmental Medicine, Volume 66, Number 5, Mai 2024.