Der Sonntag darf nicht zum Werktag werden
Der Sonntag ist in der Schweiz grundsätzlich arbeitsfrei. Gearbeitet wird nur ausnahmsweise in Berufen, in denen dies für die Gesellschaft notwendig ist – zum Beispiel im Gesundheitswesen, im öffentlichen Verkehr oder bei der Feuerwehr. Bis heute ist der Sonntag für 84% der Arbeitnehmenden normalerweise kein Arbeitstag. Seit einiger Zeit intensivieren sich nun aber die Angriffe von Bundesrat und Parlament auf den arbeitsfreien Sonntag – obwohl er seit langem nicht mehr so wichtig war wie heute. Der Sonntag ist ein historisch und kulturell verankertes Recht auf Nicht-Erreichbarkeit, auf zeitliche Selbstbestimmung und auf gemeinsame freie Zeit zur Pflege von Beziehungen.
Die Angriffe auf den arbeitsfreien Sonntag häufen sich seit einiger Zeit. So wird Bundesrat Parmelin Ende November eine Verordnungsänderung zur Diskussion stellen, welche eine Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten vorsieht. Verkaufsläden in Zürich, Genf, Luzern, Basel, Lausanne, Bern und Lugano sollen neu am Sonntag geöffnet haben dürfen, sofern sie vornehmlich Luxusgüter für internationale Touristen verkaufen. Liberalisierungen der Ladenöffnungszeiten stehen aber auch in verschiedenen Kantonen zur Diskussion, so beispielsweise in Zürich.
Des Weiteren hat die Wirtschaftskommission des Nationalrats im September 2023 einen Gesetzesentwurf gutgeheissen, welcher Unternehmen während fünf Jahren nach ihrer Gründung gänzlich vom Arbeitsgesetz ausnehmen will. Unternehmen, welche vom Arbeitsgesetz ausgenommen werden, sollen lediglich mittels einer Selbstdeklaration aufzeigen müssen, dass die Arbeitnehmenden in irgendeiner Form am Geschäftserfolg beteiligt sind. Dieser radikale und in der Vernehmlassung auch von den Kantonen kritisierte Vorschlag der nationalrätlichen Wirtschaftskommission hätte weitreichende Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen in verschiedensten Branchen. Als Folge davon wäre auch der Sonntag in jungen Unternehmen ein normaler Arbeitstag.
Der arbeitsfreie Sonntag wird gelebt
Sonntagsarbeit soll nur geleistet werden müssen, um zwingend notwendige gesellschaftliche Funktionen aufrecht zu erhalten. Dazu gehören insbesondere das Gesundheitswesen, der öffentliche Verkehr oder technische Wartungsdienste. Zudem sind schon heute Freizeitdienstleistungen, die Gastronomie oder stark saisonal geprägte Tourismusregionen vom Sonntagsarbeitsverbot ausgenommen. Gemäss der schweizerischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) arbeiten 84% der Arbeitnehmenden normalerweise aber nicht am Sonntag. Das gesetzliche Verbot der Sonntagsarbeit erzielt somit trotz streitbarer Ausnahmen weitgehend die gewünschte Wirkung.
Der Wert des Sonntags – ein etabliertes Recht auf Nicht-Erreichbarkeit und zeitliche Selbstbestimmung
Der arbeitsfreie Sonntag hat durch die technologischen Entwicklungen und die zunehmenden Flexibilitätsforderungen der Arbeitgeberschaft eine zunehmende Bedeutung. 44% der Arbeitnehmenden sind bei der Arbeit häufig gestresst. (1) Der Anteil der Arbeitnehmenden mit hohem arbeitsbedingtem Stress steigt dabei gemäss dem Barometer Gute Arbeit von Travail.Suisse stetig an. 35% der Arbeitnehmenden fühlten sich 2022 am Ende eines Arbeitstages nicht nur gestresst, sie waren so erschöpft, dass sie sich nach der Arbeit nicht mehr um private Angelegenheiten kümmern konnten. Dieser Anteil ist gegenüber dem Vorjahr gestiegen. 70% der Bevölkerung erachten zudem den Leistungsstress als Gefahr für die eigene Gesundheit, wie die Gesundheitsstudie der Krankenkasse CSS zeigt. (2) Der arbeitsfreie Sonntag schafft deshalb ein zunehmend wichtiger werdendes Gegengewicht. Er ermöglicht nicht nur Erholung, sondern bringt auch Struktur in die Arbeitswoche. Damit ist der arbeitsfreie Sonntag ein seit 1700 Jahren verankertes gesellschaftliches Recht auf Nicht-Erreichbarkeit und zeitliche Selbstbestimmung. (3) Seine Bedeutung wächst für die Arbeitnehmenden mit zunehmender Erschöpfung.
Pflege sozialer Beziehungen setzt gemeinsame freie Tage voraus
Dadurch, dass der Sonntag praktisch für alle Arbeitnehmenden arbeitsfrei ist, ermöglicht er wie kein anderer Tag die Pflege sozialer Beziehungen und eine Synchronisierung der Gesellschaft. Dies, indem er gleichzeitige Freiräume innerhalb von Familien, Freundeskreisen oder anderen sozialen Gemeinschaften schafft. Dies ist gerade in unsicheren Zeiten unerlässlich, denn die zunehmende Individualisierung schafft nicht nur Freiheiten, sondern auch Einsamkeit. 32% der jungen Frauen und 22% der jungen Männer fühlten sich gemäss der schweizerischen Gesundheitsbefragung in der Schweiz im Jahr 2022 ziemlich oder sehr einsam. Auch hier ist die Tendenz steigend. Gemeinsame planbare freie Tage gewinnen somit mit zunehmender Individualisierung und der Zunahme der Einsamkeit stark an Bedeutung. Zudem entstehen wichtige gesellschaftliche Werte durch das aktive Zusammenleben, durch Begegnungen, gemeinsame Aktivitäten und Gespräche. Auch dafür ist der arbeitsfreie Sonntag gesellschaftlich von hoher Bedeutung.
Der Rattenschwanz unkoordinierter Arbeitszeiten
In einer stark arbeitsteilig organisierten Wirtschaft, zieht fast jede Arbeit weitere Arbeiten nach sich. Eine E-Mail wird nicht nur versandt, sondern auch empfangen, längere Arbeitstage erhöhen das Bedürfnis nach längeren Öffnungszeiten für Kindertagesstätten, technische Störungen am Sonntag führen zu technischen Reparaturen am Sonntag, der Sonntagsverkauf erfordert auch Warenlieferungen, Reinigung, mehr öffentlichen Verkehr und Sicherheitsmassnahmen am Sonntag, um nur einige Beispiele zu nennen. Die Ausdehnung der Arbeitszeiten zieht somit einen Rattenschwanz an weiteren Auswirkungen nach sich. Dadurch führt eine Liberalisierung der Arbeitszeiten in einer Branche immer zu weiteren Liberalisierungsbedürfnissen in anderen Branchen. Dies zeigt ein grundsätzliches Problem: je stärker die Arbeitszeiten voneinander abweichen, desto schwieriger wird die effektive Einhaltung von Ruhezeiten und die Schaffung gemeinsamer Freiräume. Die Koordination der Arbeitszeiten bleibt deshalb in der Arbeitswelt 4.0 eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die zeitweise Nicht-Erreichbarkeit, zeitliche Selbstbestimmung, die Erholung und die Schaffung gemeinsamer Freiräume tatsächlich gewährleistet werden können. Der arbeitsfreie Sonntag gewinnt deshalb in Zeiten der zunehmenden Erschöpfung, Individualisierung und Flexibilisierung als einziger gemeinsamer freier Tag der Woche weiter an Bedeutung. Er darf nicht zum Werktag werden.
Quellen:
- Vgl. Barometer Gute Arbeit Travail.Suisse 2022
- Forschungsstelle Sotomo (2023): «Wie geht es Ihnen? – CSS Gesundheitsstudie 2023», Luzern/Zürich.
- Der Sonntag ist gemäss einem Edikt des römischen Kaisers Konstantin aus dem Jahr 321 n.Chr. in Europa als arbeitsfreier Tag festgelegt. In der Schweiz wurde er nach seiner Infragestellung im Zuge der Industrialisierung 1877 im ersten Fabrikgesetz gesamtschweizerisch auch gesetzlich verankert.