Die drängende Frage, ob die Zeit zum Stillen am Arbeitsplatz bezahlt wird, sollte bald beantwortet sein. Mit der Annahme der parlamentarischen Initiative Maury Pasquier und der Ratifizierung des Übereinkommens über den Mutterschutz (Nr. 183) der Internationalen Arbeitsorganisation IAO machte der Nationalrat diesbezüglich in der Herbstsession einen wichtigen Schritt. Dieses Übereinkommen sieht vor, dass Stillzeit am Arbeitsplatz als bezahlte Arbeitszeit gilt. Travail.Suisse, die unabhängige Dachorganisation von 170’000 Arbeitnehmenden, wartet seit Jahren auf diesen Schritt und beweist damit, dass die langjährige Lobbyarbeit im Parlament zugunsten der Arbeitnehmerinnen nun Früchte trägt.
Travail.Suisse ist immer wieder konfrontiert mit der Frage, ob die Zeit, die eine Arbeitnehmerin am Arbeitsplatz nach einem Mutterschaftsurlaub zum Stillen aufwendet, bezahlt wird. Seit der Lancierung der ersten Kampagne «InfoMutterschaft» 2004 und der digitalen Agenda für erwerbstätige Frauen und ihre Vorgesetzten im Jahr 2011 (www.mamagenda.ch) wenden sich regelmässig Frauen mit dieser Frage an Travail.Suisse und die zwölf Mitgliedsorganisationen. Travail.Suisse hat mehrmals Parlamentsmitglieder für diese Frage sensibilisiert und sie auf das Problem aufmerksam gemacht. Einige brachten das Thema im Parlament ein, leider bisher ohne Erfolg1.
Das neue Parlament, das bei den letzten eidgenössischen Wahlen zu einem Drittel erneuert wurde, schenkte nun den von Travail.Suisse vorgebrachten Argumenten Gehör: Wenn das Stillen am Arbeitsplatz gefördert und bezahlt wird, hat dies positive Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Gesundheitskosten. Denn gestillte Kinder sind weniger häufig krank und leiden seltener unter Allergien. Erwerbstätige Frauen, die stillen, erholen sich schneller von der Geburt und haben ein geringeres Risiko für Brust- und Eierstockkrebs. Beim Stillen wird zudem die wichtige Bindung vom Kind zur Mutter gestärkt, und der Mutter gibt es ein Gefühl von Stolz. Aus wirtschaftlicher Sicht zahlen sich diese Vorteile in Form von geringeren Gesundheitskosten und selteneren Absenzen am Arbeitsplatz aus.
Am 27. September sprach sich nun im Nationalrat endlich eine Mehrheit (101 Ja gegen 56 Nein) dafür aus, die Gesetzeslücke zu beseitigen, die es rücksichtslosen Arbeitgebern ermöglichte, die Stillzeit vom Lohn abzuziehen, obwohl diese Zeit im Arbeitsgesetz seit Langem als Arbeitszeit gilt.
Wirkungslose Empfehlungen
Grundsätzlich besteht ein breiter Konsens: Die Weltgesundheitsorganisation WHO, die Gesundheitsbehörden, die Ärzteschaft, die Hebammen und das SECO empfehlen, bis sechs Monate nach der Geburt zu stillen, das heisst über den Mutterschaftsurlaub hinaus, der in der Schweiz nur mindestens 14 Wochen dauert. Die Praxis sieht anders aus: Nach sechs Monaten geben nur noch 14 Prozent der Frauen ihren Kindern die Brust, obwohl direkt nach der Geburt 94 Prozent stillen. Bei den geringsten Schwierigkeiten – dazu gehört auch, dass die Zeit zum Stillen am Arbeitsplatz nicht bezahlt wird – stillen die Frauen ihr Kind ab.
In der Schweiz hat jedoch der Gesetzgeber im Arbeitsgesetz (ArG) vorgesehen, dass junge Mütter, die an den Arbeitsplatz zurückkehren, das Recht haben, ihr Kind während der Arbeitszeit weiter zu stillen. Die entsprechende Vollzugsverordnung hält fest, dass die gesamte zum Stillen aufgewendete Zeit als Arbeitszeit gilt, wenn im Unternehmen gestillt wird, und die Hälfte davon, wenn die Mutter den Arbeitsort dafür verlässt2. Ob eine Frau direkt stillt oder abpumpt, spielt auch nach Ansicht des Staatssekretariats für Wirtschaft keine Rolle.
Da weder das Gesetz noch die Verordnung klare Angaben zur Frage machen, ob die Stillzeit auch bezahlt werden muss, gilt das Obligationenrecht (Artikel 324a). Rücksichtslose Arbeitgeber nutzen diese Gesetzeslücke aus: Auf Kosten ihrer Mitarbeiterinnen machen sie unbedeutende, fragwürdige Einsparungen, indem sie die Zeit zum Stillen vom Lohn abziehen (insgesamt handelt es sich lediglich um einige hundert Franken pro Fall). Bei schlecht bezahlten Stellen, die häufig von Frauen besetzt sind, ist es ganz einfach nicht möglich, während der zum Stillen vorgesehenen Zeit auf den Lohn zu verzichten.
Ratifikation eines internationalen Übereinkommens bringt Klarheit für erwerbstätige Schweizer Mütter
Dank einer 2007 im Ständerat eingereichten parlamentarischen Initiative von Liliane Maury Pasquier (SP, GE), welche die Ratifizierung eines von der Schweiz unterzeichneten internationalen Übereinkommens fordert, ist nun nach mehreren Versuchen ein glückliches Ende in dieser Frage in Sicht: Artikel 10 des Übereinkommens 183 zum Mutterschutz sieht explizit vor, dass diese Pausen «als Arbeitszeit anzurechnen und entsprechend zu bezahlen» sind.
Mit der Ratifizierung des Texts aus dem Jahr 2000, der von der Schweiz lange nicht ratifiziert wurde, weil es keinen Mutterschaftsurlaub gab (was sich 2005 änderte), stimmte das Parlament nun auch einer Anpassung der Gesetzgebung zu. Wenn der Ständerat der Ratifizierung des IAO-Übereinkommens ebenfalls zustimmt, wird der Bundesrat die Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz ändern, genauer Artikel 60, und damit jeden Zweifel ausräumen: Die zum Stillen benötigte Zeit muss künftig bezahlt werden.
Travail.Suisse freut sich über diesen Fortschritt. Die Frauen werden so am Arbeitsort nicht mehr schickaniert, wenn sie beschliessen, ihr Kind nach dem Mutterschaftsurlaub weiter zu stillen. Mit diesem Entscheid stehen die Präventions- und Gesundheitsempfehlungen, die Frauen während der Schwangerschaft erhalten, endlich in Einklang mit der Realität in der Arbeitswelt.
2 Artikel 60 Abs. 2 der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz