Der neuen Strategie Nachhaltige Entwicklung 2012-2015 kommt besondere Bedeutung zu, denn sie ist ein wichtiger Beitrag der Schweiz zur UNO-Konferenz für nachhaltige Entwicklung, die im Juni 2012 in Rio de Janeiro stattfindet (Rio+20). In der Strategie werden der Wert der Arbeit und die Rolle der Sozialpartner für die Herbeiführung von nachhaltigeren Produktionsmethoden zu wenig berücksichtigt.
Die in der revidierten Bundesverfassung von 1999 verankerte nachhaltige Entwicklung wird definiert als «eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen». Diese Definition bedeutet, dass die Solidarität einerseits zwischen den Generationen und andererseits zwischen den (reichen und armen) Regionen der Welt spielen muss. Sie beinhaltet also soziale Gerechtigkeit und gerechte Güterverteilung bei gleichzeitiger Wahrung der Ökosysteme. Nachhaltige Entwicklung erfordert somit ein ausgewogenes Verhältnis zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Aspekten.
Die Strategie 2012-2015 ist bereits die vierte ihrer Art und definiert die strategischen Stossrichtungen für die Politik der nachhaltigen Entwicklung in der Schweiz. Sie knüpft an die vorhergehende Strategie (2007-2011) an, unterscheidet sich aber von dieser durch ihre Einbindung in die Legislaturplanung des Bundesrates, was ihre Sichtbarkeit und Bedeutung erhöht.
Die Strategie Nachhaltige Entwicklung umfasst Leitlinien, eine kurze Bilanz des heutigen Standes der Dinge, einen Aktionsplan, bereichsübergreifende Massnahmen sowie ein Kapitel zur Umsetzung.
Unantastbare Leitlinien!
Die Leitlinien wurden in der Strategie 2008 -2011 definiert und sind «zeitlich unbefristet gültig». Das ist der erste Punkt, den man an der Strategie kritisieren kann. Da nachhaltige Entwicklung ein partizipativer Prozess ist, bedauern wir, dass man gleich von Beginn weg die unbefristete Gültigkeit der Leitlinien festschreibt. Visionen und Ideen verändern sich mit der Zeit, und Travail.Suisse fordert bereits heute, dass bei der Ausarbeitung der nächsten Strategie auch die Leitlinien diskutiert werden können. Die heutigen Leitlinien haben nämlich durchaus ihre Schwachpunkte. Erstens ist die Haltung des Bundesrates zur Nachhaltigkeit fragwürdig (er schwankt zwischen einer starken und einer schwachen nachhaltigen Entwicklung), und zweitens werden die Sozialpartner in der Leitlinie «Die nachhaltige Entwicklung partnerschaftlich realisieren» nicht berücksichtigt (während die Strategie der EU diesen Aspekt einbezieht).
Die Schweiz ist noch weit davon entfernt, ein nachhaltiges Land zu sein
Bezüglich der Bilanz des heutigen Standes der nachhaltigen Entwicklung ist erfreulich, dass der Bundesrat die Lage nicht beschönigt. So gesteht er beispielsweise ein, dass die Schweiz als Folge des wirtschaftlichen Strukturwandels und der Auslagerung industrieller Produktionen einen grossen Teil der von ihr verursachten Umweltbelastungen ins Ausland verlagert. Er hält auch fest, dass die Schweiz noch weit von einem nachhaltigen Zustand entfernt ist, denn unser ökologischer Fussabdruck verbraucht fast dreimal so viele Ressourcen, wie in globaler Hinsicht dauerhaft verträglich wäre.
Der wesentliche Teil der Strategie ist der Aktionsplan, der Massnahmen zur Bewältigung folgender zehn Schlüsselherausforderungen vorschlägt:
1. Das Klima schützen und die Naturgefahren bewältigen.
2. Den Energieverbrauch vermindern und erneuerbare Energien fördern.
3. Eine nachhaltige Raumentwicklung gewährleisten.
4. Die wirtschaftliche Produktivität bei gleichzeitiger Entkoppelung vom Ressourcen- und Energieverbrauch steigern und den Konsum auf die nachhaltige Entwicklung ausrichten.
5. Die natürlichen Ressourcen nachhaltig nutzen.
6. Den sozialen Zusammenhalt stärken, die kulturelle Entfaltung sowie die Integration fördern und demographische Herausforderungen frühzeitig angehen.
7. Die Gesundheit der Bevölkerung verbessern.
8. Bei globalen Entwicklungs- und Umweltherausforderungen Verantwortung übernehmen.
9. Die Finanzierung der öffentlichen Haushalte und der Sozialversicherungen langfristig sichern.
10. Bildung, Forschung und Innovation konsequent für die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklung heranziehen.
Diesbezüglich unterscheidet sich die neue Strategie kaum von der vorhergehenden – mit Ausnahme folgender Aspekte:
Einige Kritikpunkte am Aktionsplan
Positiv zu vermerken ist, dass der Aktionsplan die wichtigsten Herausforderungen enthält, welche die Schweiz annehmen muss, um ein nachhaltiges Land zu werden. In Bezug auf den Inhalt der Herausforderungen und der vorgeschlagenen Massnahmen haben wir jedoch folgende Kritikpunkte vorzubringen:
Fehlender Einbezug der Beschäftigungsfrage und der Arbeitnehmenden.
Die Herausforderung 4, die darin besteht, die wirtschaftliche Produktivität bei gleichzeitiger Entkoppelung vom Ressourcen- und Energieverbrauch zu steigern, erfordert einen partizipativen Ansatz, der die Schulung und Mitarbeit der ersten Betroffenen – also der Arbeitnehmenden – beinhaltet. Es ist bedauerlich, dass der Aktionsplan das nicht erwähnt. Der Schwerpunkt wird lediglich auf das verantwortungsvolle Unternehmertun im Sinne der sozialen Verantwortung der Unternehmen gelegt. Der Plan nimmt jedoch keinen Bezug auf die Sozialpartnerschaft und die Gesamtarbeitsverträge, die für die konkrete Umsetzung der nachhaltigen Entwicklung in den Unternehmen und Branchen genutzt werden sollten. Man könnte beispielsweise Klauseln über die nachhaltige Entwicklung in die Gesamtarbeitsverträge aufnehmen.
Es wird auch nicht auf die bestehenden Zusammenhänge zwischen nachhaltiger Entwicklung und Beschäftigung eingegangen. Der Aktionsplan müsste auf ein angemessenes, international anerkanntes Übergangskonzept Bezug nehmen, und zwar im Hinblick auf den wirtschaftlichen Strukturwandel in Zusammenhang mit der Klimaerwärmung, der sich stark auf die Beschäftigung auswirkt.
Bewältigung der demografischen Herausforderungen auch mittels Aufwertung der Arbeit. Die Frage der demografischen Herausforderungen wird behandelt, aber nicht genügend unter dem Blickwinkel des Arbeitsmarktes. Der gewählte Ansatz konzentriert sich weiterhin auf die Anpassung des Vorsorgesystems an die demografische Entwicklung. Die Hauptherausforderung der demografischen Entwicklung besteht jedoch darin, eine genügend hohe Erwerbstätigenquote auf dem Arbeitsmarkt zu halten. Dazu sind Massnahmen zu treffen, welche die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben verbessern und die Arbeit mittels Stressbekämpfung, Förderung der Weiterbeschäftigung von älteren Arbeitnehmenden und Ausbau der Weiter- und Fortbildung aufwerten.
Ausserdem muss sich die Schweiz auch mit dem Problem des Personalmangels befassen, das sich mit der demografischen Entwicklung noch verschärfen wird. Diesbezüglich sind Vorausdenken und Planung erforderlich, damit der Personalbedarf nach Beruf und Branche in den kommenden Jahren und Jahrzehnten abgeschätzt werden kann. Die Schweiz kann nicht nachhaltig sein, wenn sie nicht über genügend Betreuungs- und Pflegepersonal zur Bewältigung der Überalterung der Bevölkerung verfügt. Unser Land muss auch Anstrengungen für den Berufsnachwuchs und die Bildung unternehmen, wenn es über genügend qualifiziertes Personal im Bereich der sauberen Technologien zur Erreichung der Reduktionsziele bei den Treibhausgasen verfügen will.
Weniger starre Finanz- und Sozialversicherungspolitik. Es stimmt sicher, dass gesunde Finanzen für die Förderung des Wachstums, der Beschäftigung und des sozialen Zusammenhalts erforderlich sind. Man darf dabei aber nicht dogmatisch sein, denn die Schweiz steht aufgrund der demografischen Entwicklung vor bedeutenden Investitionen. Deshalb ist die Aussage abzulehnen, dass die Schweiz im internationalen Vergleich unbedingt eine tiefe Staatsquote haben muss. Auch die Schuldenquote muss in Anbetracht ihrer Entwicklung im letzten Jahrzehnt und der Tatsache, dass sie deutlich unter dem EU-Durchschnitt liegt, nicht zwingend noch weiter gesenkt werden.
In Bezug auf die ökologische Neuausrichtung des Steuersystems, die als neue Massnahme vorgeschlagen wird, ist Vorsicht geboten: Das ist sicher eine gute Sache, um gewisse umweltschädliche Subventionen zu reduzieren. Wenn es dagegen darum geht, bestimmte Steuern (wie die direkte Bundessteuer oder die Sozialbeiträge) durch ökologische Abgaben zu senken, ist unbedingt sicherzustellen, dass die Steuerlast sich nicht stärker auf die tiefen und mittleren Einkommen verschiebt. Dem Staat dürfen dadurch auch keine Ressourcen zur Erfüllung seiner Aufgaben entgehen.
Schliesslich ist es legitim, sich Sorgen um die langfristige Finanzierung der Sozialversicherungen zu machen, denn wir wollen unseren Kindern und Enkeln finanziell gesunde Sozialversicherungen hinterlassen. Aber auch hier sind zu starre, auf die Schuldenbremse ausgerichtete Regeln zu vermeiden.