Die Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens zum neuen Ausländer- und Integrationsgesetz hat die Festlegung von Kontingenten für Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten für 2012 in den Hintergrund gedrängt. Diese Thematik verdient jedoch, dass man sich schon jetzt damit befasst, denn der Bundesrat hat für nächstes Jahr eine vertiefte Debatte dazu angekündigt.
Nachdem Travail.Suisse an der Medienkonferenz vom 25. Oktober 2011 eine neue Arbeitsmarktzulassungspolitik für Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten gefordert hatte, kündigte der Bundesrat für 2012 eine vertiefte Debatte über die Kontingentpolitik für Erwerbstätige aus Nicht-EU-/EFTA-Staaten an. Diese Debatte wird im Zuge der Veröffentlichung eines umfassenden Berichts zur Zuwanderung stattfinden.
Dieser Schritt, welcher der Auftakt zu einer Änderung der Arbeitsmarktzulassungspolitik für Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten sein könnte, ist zu begrüssen. Die Ankündigung einer vertieften Debatte bedeutet, dass der Bundesrat sich bewusst ist, dass die Entwicklung der Dinge zu einer Anpassung der heutigen Zulassungspolitik führen muss.
In Bezug auf diese künftige Debatte hat Travail.Suisse mit dem Positionspapier «Zuwanderung aus Drittstaaten: für eine Arbeitsmarktpolitik in Übereinstimmung mit der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung» Stellung bezogen.
Mit der aufgrund der Eurokrise absehbaren wirtschaftlichen Verlangsamung ist in der Zulassungspolitik für Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten vorerst keine merkliche Veränderung in Sicht. Und es ist richtig, dass der Bundesrat für das nächste Jahr keine Erhöhung der Kontingente vorsieht. Die derzeit vorrangige Strategie im Bereich der Zuwanderung zum Arbeitsmarkt besteht darin, die Lücken bei der Umsetzung der flankierenden Massnahmen zu stopfen.
Demografische Entwicklung ausschlaggebend
Ist die Eurokrise aber einmal überwunden und die Schweiz wieder auf dem Weg des Wachstums, rücken die Themen Personalmangel und demografische Entwicklung wieder in den Vordergrund. Da die EU-Länder und insbesondere die neuen Mitgliedstaaten ebenfalls unter demografischer Überalterung leiden, wird die Schweiz in Zukunft immer mehr Mühe haben, in der EU das qualifizierte Personal zu finden, das sie braucht. Und das gilt nicht nur für die Exportwirtschaft, sondern auch für andere, binnenorientierte Sektoren wie Pflege und Gesundheitswesen, Unterrichtswesen, Polizeikorps, SBB usw.
Auch mehr wenig oder mittel qualifiziertes Personal wird benötigt, insbesondere in der Hauswirtschaft, da die ungünstige demografische Entwicklung eine höhere Frauenerwerbsquote nach sich ziehen wird. Es braucht somit auch mehr Personal für die familienergänzende Kinderbetreuung und die Pflege betagter Menschen, beispielsweise in Heimen, Spitex usw.
Angesichts dieser Entwicklung befürwortet Travail.Suisse eine Anpassung der Arbeitsmarktzulassungspolitik für Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten: Die Kontingente für qualifizierte und hochqualifizierte ausländische Arbeitskräfte müssen erhöht werden, und eine beschränkte Zahl wenig bis mittel qualifizierter Ausländerinnen und Ausländer ist ebenfalls zuzulassen. Die scheinheilige Praxis, erwiesene Bedürfnisse durch etwa hunderttausend Papierlose in unserem Land zu decken, muss endlich erkannt werden.
Debatte breit abstützen
Eine konsequente Änderung der Zulassungspolitik erfordert eine fundierte und vertiefte Debatte, damit die Bevölkerung sie positiv aufnimmt. Diese Entwicklung kann jedoch auch als Chance betrachtet werden, nämlich die Chance, bei der Bevölkerung das Verständnis für die Zuwanderungsfragen zu fördern, indem die Diskussion mit der demografischen Entwicklung, den künftigen Bedürfnissen der Gesellschaft und der Erhaltung einer für die Wahrung des Wohlstands ausreichenden Erwerbsquote in Zusammenhang gebracht wird. So besteht auch die Chance, dass die Zuwanderungsfragen weniger unter dem Blickwinkel der Missbräuche oder der Sicherheit diskutiert werden. Das schränkt den Raum für die Instrumentalisierung der Ausländerfrage zu politischen Zwecken ein.
Die Sozialpartner können in dieser Debatte eine wichtige Rolle spielen, indem sie für die erforderlichen Anpassungen eintreten und dazu beitragen, dass Veränderungen in der Migrationspolitik besser in der Bevölkerung verankert werden.
Grundlegende Voraussetzungen
Einige Voraussetzungen müssen nach Ansicht von Travail.Suisse unbedingt erfüllt sein, damit eine neue Zulassungspolitik für Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten gelingen kann. Die wichtigsten Punkte sind:
1. Bevor die Zulassungspolitik für Angehörige von Drittstaaten angepasst wird, muss alles für eine effiziente Umsetzung der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit unternommen werden. Politik und Behörden müssen sich auch mit den negativen Auswirkungen des mit der Freizügigkeit verbundenen Wachstums auf die Wohnkosten und anderen von der Bevölkerung als negativ empfundenen Konsequenzen befassen.
2. Über eine neue Zulassungspolitik muss im Vorfeld eingehend debattiert werden, damit ersichtlich wird, warum die Schweiz in Zukunft mehr Ausländerinnen und Ausländer aus Drittstaaten braucht.
3. Eine Reihe von Voraussetzungen muss erfüllt sein, damit eine neue Zulassungspolitik berechtigt ist und nicht anderen Zielen entgegenwirkt. Nachfolgend eine nicht erschöpfende Liste der wichtigsten Voraussetzungen:
4. Schaffung einer Kommission, in der die öffentliche Hand und die Sozialpartner mitwirken und die den künftigen Bedarf an ausländischem Personal aus Drittstaaten in einem Zeithorizont von einigen Jahren abklären muss. Dazu muss der Bundesrat zukunftsorientierte Studien zur Bedarfsanalyse in verschiedenen Berufen und Branchen in Auftrag geben.
5. Beibehaltung der vorgängigen Kontrollen der Lohn- und Arbeitsbedingungen zur Vermeidung von Lohn- und Sozialdumping. Kontrollen müssen auch am Arbeitsplatz durchgeführt werden.
6. Lösung oder zumindest Milderung der Interessenkonflikte zwischen der Zulassungspolitik für Angehörige von Drittstaaten und der Bildungs- und Entwicklungspolitik. Für die Bildungspolitik wäre es beispielsweise sinnvoll, dass Arbeitgeber, die Bewilligungen für die Beschäftigung von Personal aus Drittstaaten erhalten, gleichzeitig Ausbildungsplätze schaffen müssen. Für die Entwicklungspolitik müssen Formen des Ausgleichs für den Brain Drain eingeführt werden (z.B. finanzielle Unterstützung für Bildungs- und Forschungseinrichtungen in den Entwicklungsländern, aus denen die in die Schweiz einwandernden Arbeitskräfte stammen).
7. Es müssen zusätzliche Mittel für die Integration bereitgestellt werden, damit der soziale Zusammenhalt nicht geschwächt wird. Die Integrationspolitik muss vermehrt als eine Politik des sozialen Zusammenhalts verstanden werden und soll nicht nur Ausländerinnen und Ausländer, sondern die gesamte Bevölkerung einbeziehen.