Heute werden Familien, die ein Kind adoptieren, doppelt bestraft: Es ist nicht nur schwierig, ein Kind zu adoptieren, sondern die betroffenen Eltern können auch nicht dieselben Rechte beanspruchen wie Familien, die das Glück haben, eigene Kinder zu bekommen. Mit einer Motion will Nationalrat Marco Romano (CVP/TI) dieser Ungleichbehandlung ein Ende setzen. Travail.Suisse, die unabhängige Organisation von 170’000 Arbeitnehmenden, unterstützt den Vorschlag vorbehaltlos.
Für viele Eltern ist es nicht möglich, auf «natürliche» Weise eine Familie zu gründen, das heisst leibliche Kinder zu haben. Dies trifft auf immer mehr Paare zu. Das Nationale Forschungsprogramm 50 (NFP50) befasst sich mit den Ursachen dieses Problems, insbesondere mit der abnehmenden männlichen Fruchtbarkeit. 2007 bestätigten die Ergebnisse eines Projekts im Rahmen des NFP50, dass die Qualität der männlichen Spermien in der Schweiz abnimmt, unter anderem, weil chemische Produkte mit hormonähnlicher Wirkung (sog. Umwelthormone oder endokrine Disruptoren) in der Biosphäre vorkommen1. Auch andere Gründe wurden inzwischen von Experten untersucht, etwa das steigende Durchschnittsalter der Männer, die Kinder zeugen. Tatsächlich hat das Alter des Vaters Auswirkungen in Form eines Rückgangs der natürlichen Fruchtbarkeit, der Spermienproduktion und der biologischen Qualität der Spermien2. Auch in der Schweiz haben Männer wie Frauen immer später Kinder. Unverändert stark ist hingegen in der Schweiz der Kinderwunsch, wie eine Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen bestätigte3.
Die Adoption eines Kindes ermöglicht es Eltern, die keine eigenen Kinder haben können, eine Familie zu gründen. Es ist bekannt, dass das Adoptionsverfahren lang und schwierig ist, manchmal auch sehr kostspielig. Das ist eine erste Benachteiligung. Falls sie dieses Verfahren erfolgreich absolviert haben, werden die betroffenen Eltern in gewisser Weise nochmals «bestraft», weil die Schweiz die Adoption nicht einer Geburt gleichstellt, nach der die Mutter einen Urlaubsanspruch hat, damit sie ein Kind unter guten Bedingungen in die Familie aufnehmen kann.
Auf Bundesebene besteht bei einer Adoption weder für die Mutter noch für den Vater ein Anspruch auf einen Elternurlaub. Diese Lücke bestraft zahlreiche Familien und kann Eltern sogar davon abhalten, diesen Weg der Familiengründung zu wählen.
Starker Kinderwunsch trotz gegenläufiger Trends erkennbar
Seit 1980 ist die Zahl der Adoptionen stark zurückgegangen: Während damals noch gegen 1600 Kinder adoptiert wurden, waren es 2010 gemäss Bundesamt für Statistik lediglich noch 580. Ein Grossteil der Adoptionen (45 Prozent) betrifft Kleinkinder im Alter von 0 bis 4 Jahren. Die Entwicklung dieser Altersgruppe deckt sich mit dem Abwärtstrend, der auch bei der Gesamtzahl der Adoptionen für Kinder jeden Alters festzustellen ist. 2010 wurden 263 Kinder im Alter von weniger als 4 Jahren adoptiert.
Die Gründe für diesen Abwärtstrend liegen zweifellos darin, dass die Fortpflanzungsmedizin Fortschritte gemacht hat und immer vielfältigere Methoden einer breiteren Bevölkerung zugänglich sind (In-vitro-Fertilisation, intrazytoplasmatische Spermieninjektion). 2009 waren über 2 Prozent der Geburten das Ergebnis von künstlichen Befruchtungen, was 1’891 Lebendgeburten entspricht. Weil nicht alle Behandlungen erfolgreich sind und zu einer Geburt führen, ist auch erwähnenswert, dass sich 6300 Paare im Jahr 2009 für eine Behandlung im Bereich der medizinisch unterstützten Fortpflanzung entschieden, d.h. fast doppelt so viele wie 2002.
Sowohl diese medizinischen Behandlungen als auch die Adoptionen zeigen: Schweizerinnen und Schweizer wünschen sich Kinder und möchten eine Familie gründen. Nicht nachvollziehbar ist, dass Familien, die sich für eine Adoption entscheiden, am Ende ihres Weges bestraft werden. Die Aufnahme eines Kleinkinds in eine Familie braucht Zeit, unabhängig davon, ob es in der Schweiz oder an einem anderen Ort geboren wurde.
Dreieinhalb Millionen für Eltern, die Kinder adoptieren
Wenn die Rede von neuen Sozialversicherungsleistungen ist, stellt sich sofort die Frage der Kosten. Die Kosten eines Mutterschaftsurlaubs oder eines bezahlten Urlaubs für Väter bei der Geburt eines Kindes sind jedoch ebenso wie die Kosten im Zusammenhang mit einem Elternurlaub anerkanntermassen eine Investition in die Zukunft.
Travail.Suisse hat trotzdem berechnet, wie viel ein Adoptionsurlaub für Mütter kosten würde, der auf demselben Modell wie der Mutterschaftsurlaub gemäss Erwerbsersatzgesetz beruht: 2010 hätte dies lediglich Mehrkosten von 2,8 Millionen verursacht, neben den 725 Millionen für die Mutterschaftsentschädigungen. Die Berechnung beschränkt sich auf Adoptionen von Kindern zwischen 0 und 4 Jahren.
Wenn man wie Travail.Suisse davon ausgeht, dass auch die Väter Anspruch darauf haben, Zeit mit einem neu adoptierten Kind zu verbringen, kämen weniger als 700’000 Franken hinzu, d.h. insgesamt 3,5 Millionen Franken. Die Berechnung basiert auf dem Vorschlag von Travail.Suisse, dass Väter bei der Geburt eines Kindes 20 Tage bezahlten Urlaub erhalten.
Im Sinne eines Engagements für alle Familien hat der Tessiner CVP-Nationalrat Marco Romano am 8. März im Parlament eine Motion eingereicht, die verlangt, dass Familien bei einer Adoption dieselbe Unterstützung erhalten wie bei einer Geburt4. Konkret würde dies bedeuten, dass die Mütter bei einer Adoption einen längeren Mutterschaftsurlaub erhalten, dass es aber auch eine neue Lösung für die Väter braucht, damit diese ebenfalls während eines bezahlten Urlaubs Zeit mit dem Kind verbringen können.
Travail.Suisse, die unabhängige Dachorganisation von 170’000 Arbeitnehmenden, stellt mit Genugtuung fest, dass das Thema Elternurlaub auch im neu zusammengesetzten Parlament, aktuell bleibt. Die neuen Parlamentsmitglieder führen die Bemühungen ihrer politischen Vorgängerinnen und Vorgänger fort, damit die Schweiz eine Familienpolitik erhält, die diesen Namen verdient. Sie können dabei auf die Unterstützung von Travail.Suisse zählen.