Stress ist ein fixer Bestandteil der heutigen Arbeitswelt. Chronischer Stress aber bedroht die Gesundheit der Arbeitnehmenden und verursacht hohe Kosten für Wirtschaft und Gesellschaft. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, fordert ein kontinuierliches Stressmonitoring, um die Entwicklung im Auge zu behalten und geeignete Schutzmechanismen für die Gesundheit der Arbeitnehmenden zu entwickeln.
In den letzten Jahrzehnten hat die Arbeitswelt grosse Änderungen erfahren. Strukturanpassungen, Produktivitätssteigerungen und Arbeitsverdichtungen haben den Druck auf die Arbeitnehmenden stetig erhöht. Arbeitsabläufe werden beschleunigt und die Arbeitnehmenden müssen ihre Arbeit immer schneller verrichten. Es entsteht Stress in der umgangssprachlichen Definition. Wird Stress zu einem Dauerzustand, so ist er eine der grössten Herausforderungen der heutigen Arbeitswelt. Arbeitsmedizinisch spricht man dann von einem chronischen Ungleichgewicht von Belastungen einerseits und Ressourcen zur Entlastung andererseits. Dies wird nicht nur als unangenehm wahrgenommen, sondern gefährdet die Gesundheit. Die Schwierigkeit liegt darin, dass kurzfristiger Stress durchaus zu Motivationssteigerung und erhöhter Leistungsbereitschaft führen kann. Der Zusammenhang zwischen (kurzfristigem) Stress als Herausforderung und Motivator und (längerfristigem oder chronischem) Stress als Gesundheitsrisiko lässt sich anhand der Ergebnisse des «Barometer Gute Arbeit» anschaulich darstellen. Personen, die nur selten gestresst sind, nehmen Stress überwiegend als nicht oder nur wenig belastend wahr. Dagegen empfinden mehr als zwei Drittel (69%) der Arbeitnehmenden, die oft oder sehr häufig gestresst sind, den Stress als starke oder eher starke Belastung (vgl. Grafik1).
Stress am Arbeitsplatz ist weit verbreitet und nimmt zu
Gemäss der Stressstudie vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) aus dem Jahr 2010 fühlen sich rund ein Drittel der Erwerbstätigen in der Schweiz häufig oder sehr häufig gestresst. Dies sind 30 Prozent mehr als noch 10 Jahre davor – neuere Zahlen fehlen leider. Im «Barometer Gute Arbeit» – einem Kooperationsprojekt von Travail.Suisse und der Berner Fachhochschule (BFH) – geben jeweils rund 40 Prozent der Arbeitnehmenden an, oft oder sehr häufig gestresst zu sein. Stress am Arbeitsplatz ist damit definitiv keine Randerscheinung, sondern ein weit verbreitetes Phänomen. Zeitdruck, Parallelität von Aufgabenerledigung („Multitasking“), ständige Arbeitsunterbrechungen durch Telefonanrufe und E-Mails sowie das Verschwimmen von klaren Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit sind die massgeblichen Verursacher von Stress. Die gesundheitlichen Folgen zeigen sich zum Beispiel in Schlafproblemen, chronischen Schmerzen, Herz-Kreislauf-Problemen oder Burnouts.
In einer Studie geht die Suva davon aus, dass Stress in Zukunft zu einem der grössten Arbeitsplatz-Risiken überhaupt wird. Gemäss dieser Studie sollen die psychischen und neurologischen Krankheiten bis ins Jahr 2030 um fünfzig Prozent zunehmen. Die Anzahl arbeitsbedingter, psychischer Erkrankungen wird die Anzahl der physischen Erkrankungen übersteigen. Folglich wird chronischer Stress für die Mehrzahl der ausgefallenen Arbeitsstunden verantwortlich sein – nicht mehr die Grippe. Erste Entwicklungen in diese Richtung lassen sich bereits beobachten. So berichtete der Krankenversicherer CSS unlängst über eine Zunahme der psychischen Erkrankungen um 35 Prozent im Verlauf der letzten fünf Jahre.
Die Auswirkungen auf die Betroffenen und deren Familien und Angehörigen sind immens – ebenso die wirtschaftlichen Kosten für die Gesellschaft.
Schutz vor psychosozialen Risiken statt einseitige Flexibilisierung – Politik ist gefordert
Stress ist ein Auslöser für die klassischen Verschleisserscheinungen. Diese tragen dazu bei, dass bereits heute ein Drittel der Arbeitnehmenden aus gesundheitlichen Gründen nicht bis zur ordentlichen Pensionierung arbeiten, sondern frühzeitig aus dem Erwerbsprozess ausscheiden. Das ist ein „Verschleiss“ von Arbeitskräften, der die schweizerische Volkswirtschaft in Zeiten der demografischen Überalterung und des damit zusammenhängenden Fachkräftemangels teuer zu stehen kommt. Dazu kommen die direkten volkswirtschaftlichen Kosten. Die Gesundheitsförderung Schweiz beziffert alleine die Produktivitätsverluste aufgrund von Absentismus und Präsentismus auf rund 6.5 Mrd. Franken. Zusätzlich fallen Gesundheitskosten und allfällige Leistungen der Sozialversicherungen bei eingeschränkter oder ausfallender Erwerbsfähigkeit an.
Obwohl die Stress-Problematik in aller Munde ist, läuft auf dem politischen Parkett ein Angriff auf die Schutzbestimmungen des Arbeitsgesetzes. Unter dem Stichwort der Flexibilisierung der Arbeitszeitregelungen sollen die Belastungsspitzen deutlich erhöht werden. Eine Ausdehnung der wöchentlichen Arbeitsstunden, verkürzte Ruhe- und Erholungszeiten und weniger klare Regelungen zur Kompensation von Überzeiten wären die Folge. Damit würden die psychosozialen Belastungen deutlich erhöht und die Gesundheit der Arbeitnehmenden in unverantwortlicher Weise aufs Spiel gesetzt. Was es aus Sicht von Travail.Suisse braucht, ist ein Ausbau des Schutzes vor psychosozialen Risiken. Ein erster Schritt dazu ist eine erneute Durchführung der beinahe 10-jährigen Stressstudie des SECO und ein kontinuierliches Stressmonitoring. Nur so kann es gelingen, die Entwicklung wirklich im Auge zu behalten und darauf aufbauend geeignete Schutzmechanismen für die Arbeitnehmenden zu entwickeln.
Ein solches Stressmonitoring fordert Adrian Wüthrich, Präsident von Travail.Suisse und Nationalrat, mit der in der letzten Session eingereichten Motion „SECO-Stressmonitoring aktualisieren“ (19.3194).