Die Zeit für eine Stabilisierung der AHV-Finanzen drängt, die geburtenstarken Jahrgänge gehen jetzt in Rente. Mit jedem Jahr wird eine Reform teurer. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, wird sich für Lösungen einsetzen, die das Hauptaugenmerk auf eine solide Finanzierung legen. Schwierig wird es, wenn die Zusatzfinanzierung mit Leistungsabbau kombiniert wird. Mehr bezahlen und dafür länger arbeiten bzw. weniger erhalten, kommt in der Bevölkerung nicht gut an. Wenn schon über Leistungen diskutiert werden soll, braucht es gezielte Verbesserungen für bescheidene Einkommen. Die Änderung der AHV-Rentenformel ist ein guter Weg dazu.
Der demografische Druck nimmt stetig zu. Doch nur weil mehr Arbeitnehmende ins Rentenalter kommen und die Lebenserwartung steigt, brauchen die Leute nicht weniger Geld zum Leben. Travail.Suisse vertritt klar die Ansicht, dass die Lebensqualität der Bevölkerung bei AHV21 im Zentrum stehen muss. Diese wird selbst mit einer mittelfristig notwendigen Zusatzfinanzierung im Umfang von 2-3 Mehrwertsteuerprozenten über die nächsten paar Jahrzehnte hinweg viel weniger beeinträchtigt als bei Rentenaltererhöhungen oder gar Rentenkürzungen.
Zu denken gibt, dass die Ersatzquoten (das Verhältnis zwischen der Rente und dem letzten Lohn) bei den Neurenten verglichen mit der Situation vor ein paar Jahren drastisch sinken, was vor allem den Kürzungen in der 2. Säule geschuldet ist. Die AHV hat den Auftrag, für die Existenzsicherung im Alter zu sorgen. Die AHV kann diesen Auftrag schon heute in Anbetracht der steigenden Krankenkassenprämien und der steigenden Wohnkosten nur ungenügend erfüllen. Viele Rentner/-innen sind auf Ergänzungsleistungen (EL) angewiesen, die aber politisch ebenfalls unter Druck sind. Und auch wer knapp nicht EL-berechtigt ist, muss sich zur Decke strecken. Die Herausforderung von AHV21 wird deshalb nicht nur sein, die AHV ohne Leistungskürzungen zu stabilisieren, sondern auch, eine angemessene Existenzsicherung sicher zu stellen.
Es braucht mindestens ein „Baby-Boomer“-Mehrwertsteuerprozent
Auch wenn die Erhöhung der Mehrwertsteuer für die Arbeitnehmenden und Rentner/-innen ein Opfer darstellt, wird eine solche unumgänglich sein. Die Höhe, die der Bundesrat vorschlägt, ist angesichts der steigenden finanziellen Belastung durch die Baby-Boomer Jahrgänge angemessen. Wenn aus der Steuervorlage weitere Gelder in die AHV fliessen, kann die Erhöhung auf 1 Mehrwertsteuerprozent beschränkt werden. Der Vorteil einer Finanzierung über die Mehrwertsteuer ist, dass die ganze Bevölkerung die demografische Mehrbelastung mitfinanziert und nicht nur die Erwerbstätigen. Zudem dürfte eine Mehrwertsteuererhöhung mehrheitsfähiger sein als eine weitere Erhöhung der Lohnbeiträge. Damit die Mehrwertsteuererhöhung möglichst sozialverträglich ausgestaltet ist, plädiert Travail.Suisse für eine proportionale Erhöhung der Sätze. Zudem soll geprüft werden, ob auf eine Erhöhung des reduzierten Satzes für Güter des täglichen Bedarfs (z.B. Brot) verzichtet werden kann. Auch mit einem Normalsatz von 9.2 Prozent ist die Mehrwertsteuer in der Schweiz im internationalen Vergleich sehr tief.
Keine Erhöhung des Frauenreferenzalters zum jetzigen Zeitpunkt
Travail.Suisse lehnt eine Erhöhung des Frauenreferenzalters im Rahmen von AHV21 ab. Die Massnahme war einer der Hauptgründe für die Ablehnung der Altersvorsorge 2020 und gefährdet auch die vorliegende Reform, solange nicht gewichtige Verbesserungen auch in der Frage der Lohngleichheit erreicht werden. Der Fokus der Reform ist auf die Annäherung des tatsächlichen Rücktrittsalters mit dem heutigen gesetzlichen Rentenalter zu legen. Helfen kann dabei das flexible Rentenalter, das einen schrittweisen Übergang in die Rente möglich macht. Voraussetzung ist allerdings, dass diese Massnahmen mit Massnahmen zum Schutz älterer Arbeitnehmender ergänzt werden. Als interessant erachtet Travail.Suisse die neue Rentenformel, die der Bundesrat als Kompensation für eine Rentenaltererhöhung vorschlägt. Diese neue Rentenformel bringt eine leichte, aber zielgerichtete Anhebung der AHV-Rente für bescheidenen Einkommensklassen. Travail.Suisse fordert eine solche Rentenformel aber nicht als Kompensationsmassnahme für ein höheres Frauenrentenalter, sondern für alle AHV-Rentner/-innen.
Zielgerichtet mehr Rente für bescheidene Einkommen
Die AHV alleine kann heute keine Existenzsicherung garantieren. Dementsprechend sind viele Altersrentner/-innen auf Ergänzungsleistungen angewiesen, 2017 waren es 205‘000. Diese Zahl steigt im Gleichschritt mit der demografischen Entwicklung. Aber auch Rentner/-innen, die knapp nicht EL-berechtigt sind, haben Mühe, mit den gegenwärtigen Rentenhöhen ihre Existenz zu bestreiten. Besonders bescheidene Einkommen ohne eine substanzielle berufliche Vorsorge sind deshalb auf bessere AHV-Renten angewiesen. Wird AHV21 nicht auf die Finanzierung beschränkt, so fordert Travail.Suisse eine neue Rentenformel, welche die AHV-Renten der tiefen Einkommen gezielt anhebt. Das Modell, das der Bundesrat zur Kompensation der Erhöhung des Frauen-Referenzalters vorschlägt, soll für alle AHV-Rentner/-innen übernommen werden. Anders als beim abgelehnten AHV-Zuschlag bleiben AHV-Minimal- und Maximalrente bestehen. Aber die Rente der bescheidenen Einkommen wird stärker in Richtung Maximalrente angehoben. Am stärksten bei einem massgebenden Durchschnittseinkommen von rund 42‘000 Franken (+214 Franken). Damit würde auch bescheidenen Einkommensklassen geholfen, die knapp keine EL-Berechtigung haben. Die Kritik der „Giesskanne“, die am AHV-Zuschlag von 70 Franken geäussert wurde, wird mit der neuen Rentenformel aufgenommen.
Die Einführung der neuen Rentenformel ist in zwei Varianten denkbar: So kann die neue Rentenformel auf alle AHV-Neurentner/-innen ab in Kraft-Treten von AHV21 beschränkt werden (Variante 1) oder die neue Rentenformel kann ab in Kraft-Treten für sämtliche Rentner/-innen (laufende AHV-Renten und neue AHV-Renten) eingeführt werden (Variante 2). Variante 1 kann – wenn gewünscht – verbunden werden mit einem Anreiz zur Erwerbsarbeit bis zum ordentlichen Rentenalter bzw. Referenzalter. Dies indem die neue Rentenformel nur bei Pensionierung im Alter 64/65 zur Anwendung kommt. Variante 1 würde gemäss Kostenschätzungen so auf das Jahr 2030 bezogen gut 600 Mio. Franken Mehrkosten verursachen. Dies entspricht in etwa einer Spannbreite von 0.15 Lohn- bis 0.2 Mehrwertsteuer-Prozenten. Variante 2 würde bezogen auf das Jahr 2030 rund 1.5 Mrd. Franken Mehrkosten verursachen. Dies entspricht in etwa 0.35 Lohnprozenten bzw. 0.45 Mehrwertsteuerprozenten. Die Variante 2 hat den Vorteil, dass die ebenfalls im Rahmen der Altersvorsorge 2020 geäusserte Kritik an der Tatsache, dass der AHV-Zuschlag nur für Neurentner/-innen vorgesehen war, aufgenommen werden kann. Allerdings ist die Massnahme dementsprechend deutlich teurer. In Anbetracht der gezielten Stärkung der Existenzsicherung sind diese Mittel jedoch gut eingesetzt.
Neue Finanzierungsquellen: Solidaritätsbeitrag von sehr wohlhabenden Rentner/innen prüfen
Die bisherige Finanzierung der AHV fusst zum Grossteil auf Lohnbeiträgen. Ergänzend fliessen Mehrwertsteuerabgaben und der Bundesbeitrag ein. Lohnbeiträge werden von der erwerbstätigen Bevölkerung und den Arbeitgebern finanziert. Mehrwertsteuerbeiträge und der Bundesbeitrag werden von der ganzen Bevölkerung finanziert. In Zeiten von finanziellem Zusatzbedarf ist es sinnvoll, die Finanzierung auf möglichst viele Schultern zu verteilen. Es sollten deshalb auch neue Finanzierungsquellen geprüft werden.
Die AHV lebt von der Solidarität – sowohl zwischen den Generationen als auch innerhalb der Generationen. Die wirtschaftliche Situation von Rentner/-innen ist sehr unterschiedlich. Während rund ein Achtel der AHV-Rentner/-innen Ergänzungsleistungen für die Existenzsicherung beziehen müssen, gibt es auch sehr wohlhabende Rentner/-innen1. Zur Finanzierung der aktuellen Herausforderungen soll deshalb geprüft werden, ob ein Solidaritätsbeitrag von sehr wohlhabenden Rentner/-innen eingeführt werden kann. Damit könnte eine direkte Solidarität zwischen sehr wohlhabenden Rentner/-innen und solchen mit bescheidenen Einkommen eingeführt werden.
Man kennt das Solidaritätsprozent bereits in der Arbeitslosenversicherung (ALV), wo es zur Zeit auf Einkommen von über 148‘200 Franken erhoben wird. 2017 flossen dank dem Solidaritätsprozent über 300 Mio. Franken in die ALV. Die Situation bei sehr wohlhabenden Altersrentner/-innen stellt sich anders dar. Das Vermögen steht stärker im Vordergrund, ein Arbeitgeber fehlt meistens.
Deshalb sollen in der Prüfung folgende offene Fragen geklärt werden:
• Soll der Beitrag vermögens- und einkommensbasiert sein?
• Wie weit kann man das System der Beiträge von Nichterwerbstätigen Personen vor dem AHV-Alter übernehmen (dort gilt ein Maximalbeitrag von jährlich rund 24‘000 Franken)?
• Ab welchem Vermögen/Einkommen fängt der Solidaritätsbeitrag an?
• Wie können Schwelleneffekte verhindert werden und wie sieht ein dementsprechend abgestuftes Modell aus?
• Wie können die Beiträge möglichst unbürokratisch erhoben werden?
Dabei steht für Travail.Suisse ein Modell, das an einem sehr hohen steuerrechtlichen Reinvermögen anknüpft und damit nur eine Minderheit von sehr wohlhabenden Rentner/-innen betrifft, im Vordergrund. Das Modell sollte einen substanziellen Beitrag an die AHV leisten können und idealerweise zu Einnahmen führen, welche zumindest die Zusatzkosten des neuen Rentenmodells decken. Dadurch kann der Bedarf an weiteren Erhöhungen der Lohnbeiträge oder der Mehrwertsteuer eingeschränkt werden.2
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fn. 1 Gemäss einer Studie von 2008 besitzt rund 1/5 der Rentnerpaare ein Vermögen, welches grösser ist als eine Million Franken. Gemäss der gleichen Studie liegt das Vermögen zu etwa gleichen Teilen in Immobilien und in Wertschrif-ten. Siehe BSV Forschungsbericht 1/08. Wanner et al. „Die wirtschaftliche Situation von Erwerbstätigen und Perso-nen im Ruhestand“. Eine neuere Auswertung der Steuerdaten im Kanton Zürich zeigt gemäss NZZ, dass rund jeder Vierte Paarhaushalt in der Altersgruppe 65+ ein steuerbares Einkommen von über 1.2 Mio. Franken ausweist. Siehe https://www.nzz.ch/schweiz/die-wohlhabenden-rentner-ld.1319928
2 Wenn ein ähnlicher Anteil des Solidaritätsbeitrags an den Einnahmen wie bei der ALV – dort sind es rund 300 Mio. Franken von 7.7 Mrd. Franken – erzielt wird, wären in der AHV, die ein rund fünfmal grösseres Volumen hat, Ein-nahmen von rund 1.5 Mrd. Franken möglich.