Versicherungsbetrug gehört bestraft. Trotzdem unterstützt Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, das Referendum gegen die Observation von Versicherten im Rahmen der Teilrevision des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG). Wenn private Versicherungsspione ohne vorgängige richterliche Genehmigung Leute überwachen dürfen und damit mehr Kompetenzen erhalten als die Polizei, wird unsere Rechtsordnung in Frage gestellt.
Im Oktober 2016 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall Vukota Bojic festgehalten, dass die Schweiz über keine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Observation von Versicherten verfügt. Im Hinblick auf eine solche Gesetzesgrundlage startete der Bundesrat bereits im Februar 2017 – nur vier Monate nach dem Urteil! – eine Vernehmlassung zur Teilrevision des ATSG. Der ständerätlichen Sozialkommission ging das immer noch zu langsam; sie löste die Bestimmungen zur Observation der Versicherten aus dem bundesrätlichen Vorschlag heraus und stiess mit einer parlamentarischen Initiative selber eine Gesetzesänderung an (die Botschaft zu den weiteren ATSG-Änderungen verabschiedete der Bundesrat im März 2018 zuhanden des Parlaments). Der Ständerat behandelte die Observation der Versicherten im Dezember 2017 und der Nationalrat befasste sich als Zweitrat im März 2018 damit, in der gleichen Session wurden auch die Differenzen ausgeräumt. In nur sechs Monaten hat das Parlament die gesetzliche Grundlage für die Observation der Versicherten geschaffen. Dieses Tempo gab es bei einer Gesetzesänderung noch selten. Die öffentliche Diskussion über die Versicherungsspione konnte so gar nicht umfassend geführt werden.
Breite zivilgesellschaftliche Debatte nötig
Dieses beispiellose Tempo in der Gesetzesmaschinerie war einer der Gründe, welche ein Referendum für die Parteien und Verbände schwierig machten. Die Vertreterinnen und Vertreter der Mitgliedsverbände von Travail.Suisse unterstrichen, dass die Mitglieder nicht ohne vorgängige interne Mobilisierung zum Sammeln von Unterschriften motiviert werden können. Es muss innerhalb der Verbände über die Notwendigkeit eines Referendums diskutiert werden und eine Debatte dazu stattfinden. Mit dem forschen Vorgehen des Parlamentes wurde diese Phase jäh abgekürzt. Der Versuch, eine breite Allianz von diversen Organisationen für ein Referendum zu schmieden, scheiterte bald. Der Vorstand von Travail.Suisse musste auf die Lancierung oder die Mitlancierung eines Referendums verzichten. Es ist nun Einzelpersonen – u.a. dem ehemaligen Syna-Juristen Philip Stolkin – und einer breiten zivilgesellschaftlichen Bewegung zu verdanken, dass das Referendum doch noch ergriffen wurde. Und kurz nach dem Start der Unterschriftensammlung hat sich gezeigt, dass sich viele Kreise hinter das das Referendum stellen. Der Vorstand von Travail.Suisse hat an seiner April-Sitzung ebenfalls mit deutlicher Mehrheit beschlossen, das Referendum zu unterstützen. Es ist den Verbänden überlassen, wie stark sie sich bei der Unterschriftensammlung engagieren wollen. Die Frage, ob alleine die Sozial- und Unfallversicherungen über eine Observation entscheiden können und ob diese Überwachung durch private Detektive ausgeführt werden können soll, verdient eine Abstimmungsdiskussion. Was ist uns unsere Privatsphäre wert? Sollen private Personen hoheitliche Aufgaben übernehmen können?
Missbrauch bei Sozialversicherungen soll geahndet werden
Juristisch ist die Situation klar: Gemäss Art. 148a des Strafgesetzbuches ist Versicherungsmissbrauch strafbar. Wenn also eine Versicherung Anhaltspunkte für einen Missbrauch hat, kann sie die verdächtigte Person anzeigen und die Strafverfolgungsbehörden prüfen den Sachverhalt. Bestätigt sich der Verdacht, entscheidet ein Gericht über die Strafe. Dagegen ist nichts einzuwenden. Mit der Revision des ATSG erhalten die Versicherungen nun aber das Recht, selber und ohne richterliche Genehmigung private Detektive einzusetzen. Die verdeckte Überwachung einer versicherten Person sollte das letzte Mittel sein, um Missbrauch zu bekämpfen. Die Observation ist ein schwerer Eingriff in das Recht auf Privatsphäre. Gerade private Versicherungen, beispielsweise die Krankenversicherungen, könnten grosszügig davon Gebrauch machen. Denn sie müssen Gewinne erwirtschaften. Die Verhältnismässigkeit wird in Frage gestellt.
Bundesgericht lässt auch illegale Beweise zu
Versicherte Personen dürfen gemäss der neuen gesetzlichen Grundlage zwar nur an Orten, die von einem allgemein zugänglichen Ort aus frei einsehbar sind, observiert werden. Dabei sind auch Bild- und Tonaufzeichnungen möglich. Mit den heutigen Drohnen können einfach Fotos gemacht werden, auch vor dem Badezimmerfenster (dass Frauen nur von Frauen observiert werden, wurde nicht bestimmt). Die technische Entwicklung wird hier noch viele weitere Möglichkeiten bieten. Kommt hinzu, dass das Bundesgericht bisher auch illegal beschaffte Beweise zugelassen hat. Dies lädt schlecht ausgebildete private Detektive ein, Grenzen zu überschreiten. Das Parlament hat ihnen bereits mit dem Gesetz mehr Möglichkeiten für die verdeckte Observation gegeben als der Polizei. Indem ein Generalverdacht auf alle Bezügerinnen und Bezüger von Leistungen der Sozialversicherungen gelegt wird, wird dem Denunzieren Tür und Tor geöffnet. Den erfolgsabhängigen Privatdetektiven wären viele Hinweise noch so recht.
Suva und private Versicherer wollten keine richterliche Genehmigung
Die nationalrätliche Sozialkommission hatte ursprünglich beschlossen, dass eine Observation in jedem Fall von einer Richterin oder einem Richter genehmigt werden muss. Aufgrund eines gemeinsamen Briefs des Schweizerischen Versicherungsverbands und der Suva kam die Kommission auf diesen Beschluss zurück und schlug vor, dass nur der Einsatz von GPS-Trackern einer solchen Genehmigung bedarf (der Bundesrat lehnte die GPS-Tracker ab). Travail.Suisse ist enttäuscht, dass die Suva ihre Position nicht vorgängig im Suva-Rat, in welchem die Arbeitnehmenden- und die Arbeitgebenden sowie der Bund vertreten sind, besprochen hat. Die Suva führt nur zwischen zehn und fünfzehn Observationen im Jahr durch. Bei dieser Zahl sollte das Einholen einer richterlichen Genehmigung durchaus drin liegen. Für Travail.Suisse ist klar: Observationen sollen nur mit richterlicher Genehmigung erlaubt sein!
Versicherte nicht einschüchtern
Die Diskussion rund um den Missbrauch wird in der Öffentlichkeit immer wieder anhand von drastischen Einzelfällen geführt, welche heftige Reaktionen auslösen. Es gibt aber sehr viele Menschen, die durch Schicksale auf die Unterstützung durch eine Sozialversicherung oder die Sozialhilfe angewiesen sind, um ein würdiges Leben führen zu können. Der Missbrauch bei den Sozialversicherungen ist zu verurteilen, aber in der Gesamtheit ist er nicht ein riesiges Problem. Es gilt die Relationen zu wahren. Der geschürte Generalverdacht darf bedürftige Personen nicht vom Bezug einer Leistung abhalten. Die reiche Schweiz soll den Schwächsten unter die Arme greifen. Die Bürgerinnen und Bürger zahlen mit Steuern und mit Lohnbeiträgen einen Beitrag, um im Fall der Fälle die entsprechenden Leistungen in Anspruch nehmen zu können – das ist ihr Recht. Zudem muss die öffentliche Diskussion über die Versicherungsspione auch die laufenden Abbaupläne im sozialen Bereich aufnehmen. In mehreren Kantonen wird darüber diskutiert, ob die Sozialhilfe unter das empfohlene Niveau der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) gekürzt werden soll, um Kosten einzusparen. Der Nationalrat will bei den Ergänzungsleistungen gegen eine Milliarde einsparen und für die Pensionskasse müssen die Arbeitnehmenden bei tieferen Leistungen immer mehr zahlen. Diese Entwicklung kritisiert Travail.Suisse ebenso wie die verfehlte Einführung von privaten Versicherungsspionen.
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