Nach einer Zeit der Unsicherheiten hat der Bundesrat nun Klarheit geschaffen über die Weiterentwicklung der Schweizer Beziehungen zur Europäischen Union. Für Travail.Suisse, den unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, ist entscheidend, dass die flankierenden Massnahmen auf dem Weg zu einem institutionellen Rahmenabkommen nicht zur Verhandlungsmasse werden. Neben diesen Verhandlungen steht auch die Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit am Horizont. Es ist daher unabdingbar, mit einer wirksamen Stellenmeldepflicht die Position der inländischen Arbeitskräfte zu stärken und mit einer gerechteren Verteilung der Freizügigkeitsrendite die Zustimmung der Bevölkerung zur Personenfreizügigkeit zu erhalten.
Seit dem Staatsbesuch von EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker in Bern Ende letzten Jahres steht die Zukunft der Beziehungen zwischen der Schweiz und der europäischen Union wieder stärker im Fokus der Öffentlichkeit. Dass die EU eine Weiterentwicklung der bilateralen Verträge wünscht, ist nichts Neues. Bereits 2013 hat die Schweiz ein Verhandlungsmandat für ein institutionelles Rahmenabkommen verabschiedet. Im Kern geht es um die Fragen, wie einerseits das statische bilaterale Vertragswerk mit der dynamischen Rechtsentwicklung in Einklang gebracht werden kann und andererseits wie man bei Uneinigkeiten über die Auslegung der Verträge eine Streitbeilegung erreicht.
Doch obschon bereits diverse Verhandlungsrunden zu einem institutionellen Rahmenabkommen stattgefunden haben, scheint eine Einigung schwierig. An die Öffentlichkeit dringt wenig Konkretes. Die EU zeigte sich jedenfalls mit den Fortschritten unzufrieden und liess kurzerhand die Muskeln spielen – die Schweiz fand sich Ende 2017 unvermittelt auf einer grauen Liste für Steueroasen wieder und die Äquivalenz der Börsenrichtlinie wurde nur auf ein Jahr befristet erteilt.
Aus dem Bundesrat und hohen Verwaltungskreisen kamen in den letzten Monaten sehr unterschiedliche Zeichen und Signale. So hiess es einmal, die Verhandlungen zum institutionellen Rahmenabkommen seien kurz vor dem Abschluss, dann war von kaum überwindbaren Hindernissen die Rede. Es wurde angeregt, den Verhandlungen mit der Kumulation von verschiedene Dossiers (z.B. Abkommen über die Strommarktöffnung) zum Durchbruch zu verhelfen und der neue Aussenminister Cassis verunsicherte mit seiner Suche nach dem „Reset-Knopf“.
Aus Sicht der Arbeitnehmenden hat ein institutionelles Rahmenabkommen keinen inhärenten Wert. Travail.Suisse steht aber für geregelte Beziehungen mit den wichtigsten Handelspartnern und direkten Nachbarn – für eine kleine, offene und exportorientierte Volkswirtschaft ist dies unabdingbar. Dass dabei die Rechtsentwicklung berücksichtigt werden muss, um den Marktzugang zum EU-Raum längerfristig zu sichern, ist selbstverständlich. Eine Institutionalisierung dieses Prozesses ist wohl kaum zu umgehen oder wird auf Dauer zumindest deutlich effizienter sein als die jeweils sektoriellen Prozesse. Entscheidend für Travail.Suisse ist in erster Linie, dass die flankierenden Massnahmen (FlaM) nicht zum Spielball im Konflikt um ein solches Rahmenabkommen werden. Für die Arbeitnehmenden ist klar: Die Personenfreizügigkeit gibt es nur mit effektiven flankierenden Massnahmen. Denn es ist nicht selbstverständlich, dass Arbeitnehmervertreter einer Personenfreizügigkeit und damit der uneingeschränkten Konkurrenz der inländischen Arbeitskräfte zustimmen. Diese Zustimmung braucht eine Garantie, dass Personenfreizügigkeit nicht zu einem Dumping der Schweizer Löhne führt und dass die Lohn- und Arbeitsbedingungen geschützt bleiben. Dazu wurden die FlaM eingeführt und dazu braucht es die FlaM auch heute noch.
Eckpunkte zu den Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen
Nach einer mehrteiligen Klausur ist der Bundesrat unlängst zu einer gemeinsamen Position zur Zukunft der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU gelangt. Im Kern wurde die Suche nach einem institutionellen Rahmen für die bilateralen Verträge bestätigt. Entscheidend und richtigerweise werden die FlaM nicht Teil dieser Verhandlungen sein. Der Bundesrat möchte allerdings rasch zu einem Verhandlungsergebnis kommen, nicht zuletzt weil momentan ein Verhandlungsfenster erkennbar ist, das sich gegen Ende des Jahres wieder schliesst. Am 30. März 2019 wird der Brexit stattfinden und anschliessend sind sowohl in der EU als auch in der Schweiz Wahlen angesagt, was zu einer Blockade in den Verhandlungen führen wird. Als grösste Änderung soll die Einführung eines Schiedsgerichtes als Streitschlichtungsinstanz geprüft werden. Damit soll die Rolle des europäischen Gerichtshofes (EuGH) beschränkt werden, um so die toxische Diskussion der „fremden Richter“ abzuschwächen. Inwieweit dies gelingen wird, wird sich zeigen, schliesslich wird sich der EuGH zumindest für diejenigen Teile in den bilateralen Verträgen, die aus einer Übernahme von EU-Recht bestehen, kaum die Kompetenz zur Auslegung entziehen lassen.
Keine Kündigung der Personenfreizügigkeit aber gerechtere Nutzenverteilung
Unabhängig vom Resultat der Verhandlungen zum institutionellen Rahmenabkommen wird das Verhältnis zur EU auf der politischen Tagesordnung bleiben. So bewirtschaftet die SVP ihr Hauptthema weiter und hat zu Beginn des Jahres ihre Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit lanciert. Im Gegensatz zur Masseneinwanderungsinitiative wird diesmal reiner Wein eingeschenkt und unmissverständlich die Kündigung der Personenfreizügigkeit gefordert und damit der Wegfall der durch die Guillotine-Klausel verbundenen Bilateralen I in Kauf genommen. Die Folgen wären eine negative Wirtschaftsentwicklung mit grossem Stellenverlust und zunehmender Druck auf die Löhne und Arbeitsbedingungen durch die prekäre Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehemnden in einem Kontingentssystem – aus Sicht der Arbeitnehmenden ist diese Initiative ein Irrweg.
Es ist aber auch klar, dass die negativen Begleiterscheinungen einer Personenfreizügigkeit noch stärker angegangen werden müssen. Nur mit einer erfolgreichen Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials, funktionierenden flankierenden Massnahmen zum Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen und einer gerechteren Verteilung der Freizügigkeitsrendite kann die Zustimmung der Bevölkerung zur Personenfreizügigkeit nachhaltig aufrechterhalten werden. Dabei ist die Einführung einer effektiven Stellenmeldepflicht ein wichtiger erster Schritt. Im Kern werden so die Chancen von arbeitslosen Personen auf ein Bewerbungsgespräch und allenfalls eine Wiederanstellung erhöht. Besonders davon profitieren dürften bei der Arbeitssuche diskriminierte Personen, deren Dossiers im Bewerbungsverfahren vorschnell aussortiert würden. Allerdings bedingt es zur Wirksamkeit des Instrumentes einen Kulturwandel bei den Arbeitgebern. Einerseits müssen die Vorurteile gegenüber den bei den RAVs gemeldeten Personen abgebaut und andererseits muss diesen Personen dann auch tatsächlich eine Chance gegeben werden anstatt vorschnell im Ausland zu rekrutieren: Nur so können die Chancen der inländischen Erwerbsbevölkerung tatsächlich verbessert werden. Ausserdem braucht es Investitionen in die Infrastruktur und den Service Public, statt über Steuerdumping weiter ausländische Firmen und zusätzliche Arbeitskräfte anzulocken. Die Freizügigkeitsrendite darf nicht nur den Unternehmen zugutekommen, egal ob in Form von Gewinnen oder über Steuersenkungen. Sie muss zwingend auch für die Bevölkerung spürbar werden. Dies kann beispielsweise über Massnahmen gegen steigende Mieten und Krankenkassenprämien, für mehr finanzierbare familienexterne Kinderbetreuung, für zusätzliche Unterstützung bei der Aus- und Weiterbildung oder der Einführung eines bezahlten Vaterschaftsurlaubes geschehen.
Zentral bleibt aber auch die Situation auf dem Arbeitsmarkt. Denn die Angst vor einer Verschlechterung auf dem Arbeitsmarkt – sei es direkt durch Verdrängungseffekte und schlechtere Chancen bei der Stellenbesetzung, sei es durch mehr Druck auf die Arbeitsbedingungen oder eine stagnierende Lohnentwicklung – ist der Nährboden, auf dem die Chancen für eine Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit wachsen können.