Im Mai 2018 beginnt die Vernehmlassung zur Gesetzesvorlage zur Entlastung der betreuenden Angehörigen. In seiner Ankündigung dieser Vorlage vor einem Jahr sprach der Bundesrat von diversen möglichen Massnahmen, unter anderem von kurzen Urlauben für die Betreuung kranker Angehöriger und längeren Urlauben für die Betreuung eines schwerkranken oder verunfallten Kindes. Diese Massnahmen kommen in Notsituationen zum Tragen. Einige ausländische und Schweizer Unternehmen zeigen sich in entsprechenden Situationen bereits heute verständnisvoll und manchmal gar grosszügig. Wir stellen die Bedürfnisse und die Erwartungen in den Fokus.
Laut der Deutschschweizer Presse1 kommen einige Schweizer Grossunternehmen – Migros, Novartis, Swisscom, Roche und UBS – ihren Angestellten bei dringenden Care-Aufgaben flexibel entgegen. Sie folgen dabei im weitesten Sinn dem Beispiel einiger nordamerikanischer Unternehmen: Microsoft etwa gewährt seinen Mitarbeitenden bis zu vier Wochen bezahlten Betreuungsurlaub, ohne ein Arztzeugnis zu verlangen. Bei Google haben die Angestellten Anspruch auf bis zu 14 Tage bezahlten Betreuungsurlaub und sie können bei Bedarf unbezahlte Urlaube beziehen oder kürzere Arbeitszeiten aushandeln. Die Lösungen der Schweizer Unternehmen sind nicht so grosszügig wie die der amerikanischen Unternehmen. Doch man darf ihnen zumindest zugutehalten, dass sie die Notwendigkeit erkannt haben, auf die Bedürfnisse ihrer Angestellten einzugehen. Trotz der fehlenden gesetzlichen Grundlage haben sie die Initiative ergriffen. Allerdings können es sich heute nur Unternehmen mit einer soliden finanziellen Basis leisten, betreuenden Angehörigen bezahlte Urlaube zu gewähren.
Bei den verschiedenen Lösungen fällt auf, dass sie vom guten Willen der Vorgesetzten abhängen. Alles wird einzeln ausgehandelt, niemand hat die Gewähr, das gleiche Angebot zu bekommen wie der Kollege. Die Massnahmen für die erleichterte Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Care-Arbeit gehen sehr weit auseinander. Ein Unternehmen bietet den Angestellten an, früher und/oder zu Wochenbeginn später zur Arbeit zu erscheinen, um das Wochenende so zu verlängern. Anderswo wird ein Zeitkonto angelegt, um die für die Angehörigenbetreuung bezogene Zeit später zu kompensieren. Oder es werden unbezahlte Urlaubstage gewährt. Einige Arbeitgeber bezahlen ihren Angestellten eine Beratung bei einer auf Fragen der Vereinbarkeit spezialisierten Firma.
Die regelmässige Care-Arbeit ist weit verbreitet, aber häufig ein Tabu
Vor der Fertigstellung der Vorlage mit den Gesetzesänderungen hat das Bundesamt für Gesundheit verschiedene Studien in Auftrag gegeben, um einerseits den Umfang der Bedürfnisse zu eruieren und andererseits zu prüfen, wie die Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Betreuung kranker Angehöriger in den Unternehmen gehandhabt wird. Frühere Studien des Forschungsinstituts Careum Forschung haben gezeigt, dass die Unternehmen die Lage ihrer Angestellten, die Care-Arbeit verrichten, sehr häufig verkannten. Laut ersten Ergebnissen wussten die Unternehmen nicht immer genau, welche gesetzlichen Vorgaben bereits existieren, wie zum Beispiel Artikel 36 des Arbeitsgesetzes. Dieser Artikel sieht vor, dass der Arbeitgeber berufstätigen Eltern einen Urlaub von bis zu drei Tagen zur Betreuung ihres kranken Kindes gewähren muss. 20 Prozent der Angestellten der befragten Unternehmen können keinen Urlaub beziehen und weitere 20 Prozent erhalten während dieses gesetzlich vorgeschriebenen Kurzurlaubs keinen Lohn.
Travail.Suisse wurde zur Stichhaltigkeit der ersten Ergebnisse der Befragung, die vom Basler Unternehmen B,S,S. Volkswirtschaftliche Beratung bei rund 2200 Unternehmen durchgeführt wurde, befragt und hat dabei darauf hingewiesen, dass die privat geleistete Care-Arbeit immer noch stark tabuisiert wird. Dies gelte es bei der Beurteilung der Ergebnisse zu berücksichtigen. Bei einer offiziellen Umfrage oder im Gespräch mit einem Journalisten ist die Versuchung gross, die Unternehmenspolitik im besten Licht zu präsentieren. Was sich aber effektiv abspielt, steht auf einem anderen Blatt. Es müssten daher eigentlich die in erster Linie betroffenen Personen befragt werden, nämlich die betreuenden Angehörigen.
Gemäss der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung 20142 organisieren sich über die Hälfte der Erwerbstätigen mit Betreuungsaufgaben (56 %) so, dass sie aus familiären Gründen ganze Tage freinehmen können. 11 Prozent der Personen, die Betreuungsaufgaben für Erwachsene übernehmen, gaben an, ihre Arbeitszeit für mindestens einen Monat reduziert zu haben, und 7 Prozent haben ihre Erwerbsarbeit für mehr als einen Monat ganz unterbrochen. In der Schweiz sind täglich fast 340 000 Personen mit solchen Schwierigkeiten konfrontiert – eine Zahl, die wegen der alternden Bevölkerung und mangelnder Betreuungseinrichtungen steigen wird. Frauen schränken ihre Erwerbstätigkeit wegen Care-Aufgaben deutlich häufiger ein als Männer: Sind die Kinder noch klein (0–14 Jahre), betrifft dies 32,7 Prozent der Frauen, die in einer Paarbeziehung mit Kindern leben (und 37,7 Prozent der alleinerziehenden Mütter), im Vergleich zu 11,7 Prozent der Männer, die in einer Paarbeziehung mit Kindern leben (und 24,9 Prozent der alleinerziehenden Väter). In Haushalten mit älteren Kindern oder Erwachsenen, die betreut werden müssen, schränken 18,5 Prozent der Frauen ihre Berufstätigkeit ein. Bei den Männern sind die Zahlen nicht signifikant (und werden nicht erhoben).
Chronische Situationen erfordern innovative Massnahmen
Die Vorlage, die demnächst in die Vernehmlassung kommt, scheint nur auf akute und Ausnahmesituationen einzugehen (sehr schwere Erkrankung, Unfall, Notfall), d. h. auf Situationen, bei denen der Mangel an Betreuungseinrichtungen am prekärsten ist. Es sind gleichzeitig aber auch die Situationen, bei denen die Arbeitgeber am häufigsten Verständnis zeigen und Hand für Lösungen bieten. Das ist positiv. Aber auch für die langfristige und regelmässige Care-Arbeit braucht es innovative Massnahmen. Denn es sind genau diese Situationen, die von den betreuenden Angehörigen am schwierigsten zu meistern sind, die sie gesundheitlich belasten und bis zur Erschöpfung führen können, die aber auch für ihre finanzielle Zukunft problematisch werden können (Lücken in der zweiten Säule bei einer Reduktion oder einer Aufgabe der Erwerbstätigkeit). Travail.Suisse hofft, dass die Vorlage den Bedürfnissen der meisten Betroffenen gerecht wird, indem auch Lösungen für langfristige Betreuungssituationen, bei chronischen Erkrankungen oder Behinderungen vorgesehen werden.
1Tages-Anzeiger / Berner Zeitung / Der Bund / Blick «US-Firmen bringen Pflegeurlaub in die Schweiz», 19. Januar 2018