Am kommenden 1. Juli feiert die Schweiz das 10-jährige Bestehen des Mutterschaftsurlaubs. Eine gute Gelegenheit, daran zu erinnern, welch ungeheuren Fortschritt dessen Einführung für die Arbeitnehmerinnen und die Arbeitgeber bedeutete. Die schweizerische Lösung ist sicher nicht in jeder Hinsicht perfekt für die Mütter, hat aber den Vorzug, dass sie die Praktiken vereinheitlicht hat und ein Minimum für alle erwerbstätigen Frauen in der Schweiz gewährleistet. Das ist bei den Vätern noch nicht der Fall.
Ab 1945 verpflichtete die Bundesverfassung den Bund, eine eidgenössische Mutterschaftsversicherung einzuführen. Nach jahrzehntelangen Anstrengungen von Gewerkschaften, Frauenorganisationen und politischer Parteien und nach mehreren Abstimmungsniederlagen wurde der Verfassungsauftrag schliesslich umgesetzt. Am 3. Oktober 2003, nach rund zwanzig Versuchen in knapp sechzig Jahren, nahm das Volk das Bundesgesetz über den Erwerbsersatz für Dienstleistende und Mutterschaft an.
Arbeitsverbot seit 1877
Die Einführung dieser obligatorischen Mutterschaftsversicherung, die am 1. Juli 2005 in Kraft trat, schloss eine bedeutende Lücke im Schweizer Sozialsystem. Seit 1877 ist es Wöchnerinnen verboten, in den ersten acht Wochen nach der Entbindung zu arbeiten. Dieses Verbot gilt bis heute und ist im eidgenössischen Arbeitsgesetz geregelt. Damals zeigte sich die Schweiz sehr fortschrittlich und war das erste Land Europas, das den Schutz der Wöchnerinnen regelte.
Seit 2005 haben alle erwerbstätigen oder arbeitslosen Frauen in der Schweiz Anspruch auf einen bezahlten Urlaub von 14 Wochen (oder 98 Tagen) bei der Geburt ihrer Kinder. Die Mutterschaftsentschädigung (Erwerbsersatzordnung EO) beträgt 80% des Lohnes, höchstens jedoch 196 Franken pro Tag. Der Höchstbetrag wird somit bei Angestellten mit einem Monatslohn von 7’350 Franken und bei Selbstständigen mit einem Jahreseinkommen von 88’200 Franken erreicht. Ausführliche Informationen zur Mutterschaft und zum Anspruch sind auf der regelmässig aktualisierten Website www.infomutterschaft.ch von Travail.Suisse zu finden.
Nebenbei sei angemerkt, dass die Arbeitnehmerinnen aufgrund des Erwerbsersatzgesetzes von 1940 bis 2005 Beiträge entrichteten, ohne dafür eine Leistung dafür beziehen zu können.
Positive Auswirkungen des eidgenössischen Mutterschaftsurlaubs
Anlässlich dieses Jubiläums ist es angebracht, daran zu erinnern, was die Einführung des Mutterschaftsurlaubs an Positivem bewirkt hat: Der Mutterschaftsurlaub verringerte die Diskriminierung, unter der junge Frauen bei der Einstellung zum Teil stark zu leiden hatten. Sie wurden mit Kosten in Verbindung gebracht, die ausschliesslich zu Lasten der Unternehmen gingen. Die Diskriminierung wegen Mutterschaft ist damit noch längst nicht ganz vom Tisch, wurde aber massiv abgefedert. Die Diskriminierung an sich ist sehr schwer zu fassen und grundsätzlich seit Inkrafttreten des Bundesgesetzes über die Gleichstellung von Frau und Mann gesetzeswidrig. 1
Der eidgenössische Mutterschaftsurlaub ermöglichte zudem eine Vereinheitlichung der Praktiken, auch wenn vor 2005 bereits 41% der Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen einen Mutterschaftsurlaub anboten. Dazu gehörten zahlreiche Grossunternehmen und die öffentliche Verwaltung, wie eine Erhebung des Bundesamtes für Sozialversicherungen BSV im Jahr 2012 ergab. Befragt wurden über 400 Unternehmen und 335 Frauen im Alter von 20 bis 40 Jahren, die in den letzten fünf Jahren erwerbstätig waren und in dieser Zeit Kinder geboren hatten 2 . Drei Viertel der vom BSV befragten Unternehmen, die bereits vor 2005 eine Mutterschaftsentschädigung ausgerichtet hatten, die grosszügiger (länger oder höher) war als das Obligatorium, haben diese beibehalten, und nur ein Viertel hat die neue Regelung genutzt, um seine Leistungen auf das gesetzliche Minimum zu reduzieren. Von dieser Anpassung nach unten waren vor allem die typischen Männerbranchen (Industrie, Bau, Transport, Handel…) und die KMU mit hohem Frauenanteil (Gastgewerbe, Bäckereien) betroffen. Sektoren, die auf gut ausgebildete und qualifizierte Frauen angewiesen sind (Spitäler, Banken, Versicherungen usw.), bieten ihren weiblichen Arbeitskräften insgesamt bessere Leistungen.
Vierzehn Wochen Urlaub nach der Geburt des Kindes, das kann nach wenig oder viel tönen. 2012 gaben 60% der befragten Frauen an, einen längeren Mutterschaftsurlaub bezogen zu haben, wobei die Hälfte dies in Form eines unbezahlten Urlaubs tat. Das können sich aber nur Frauen mit mittlerem oder hohem Einkommen leisten. Nur 8% der Frauen bezogen einen kürzeren Urlaub. Als Grund wurde in vielen Fällen (40%) angegeben, dass die Verkürzung auf Wunsch des Arbeitgebers erfolgte, was besorgniserregend ist. Zu verkürzten Urlauben kam es auch mangels Rechtskenntnis (30%) und aus eigenem Willen der Arbeitnehmerin (25%).
Kein Vormutterschaftsurlaub, aber begründete Absenzen vor dem Geburtstermin
Der eidgenössische Mutterschaftsurlaub beginnt am Tag der Entbindung. Wenn die Gesundheit einer schwangeren Frau oder ihres ungeborenen Kindes beeinträchtigt ist, darf sie der Arbeit nur fernbleiben, wenn sie ihre Arbeitsunfähigkeit mittels Arztzeugnis nachweisen kann. Es gibt keine offiziellen Statistiken zur Zahl der schwangeren Frauen, die aus diesem Grund vor dem Geburtstermin kürzer treten, wie der Bundesrat in seiner Antwort vom vergangenen 20. Mai auf die Interpellation der Sozialdemokratin Liliane Maury-Pasquier 3 zugibt. In der Schweiz besteht kein Anspruch auf einen Vormutterschaftsurlaub. In der Praxis schätzen die vom Magazin L’Hebdo 4 befragten Gynäkologinnen und Gynäkologen jedoch, dass 90% ihrer Patientinnen bereits vor dem Geburtstermin zu arbeiten aufhören.
Die Ärztinnen und Ärzte werden verdächtigt, Gefälligkeitszeugnisse auszustellen, aber das ist ein heikles Thema, denn die Entbindung ist eine grosse körperliche Belastung. Es liegt somit im Interesse aller, dass die schwangeren Frauen nicht in einem Zustand völliger Erschöpfung gebären müssen, damit die Geburt möglichst reibungslos verläuft. In der Schweiz haben Ärztinnen und Ärzte gemäss der Verordnung über die Unfallverhütung VUV und der Mutterschutzverordnung das Recht, eine Risikobeurteilung von Unternehmen mit beschwerlichen oder gefährlichen Arbeitsplätzen zu verlangen. Fehlt diese Beurteilung, hat der Arzt oder die Ärztin das Recht, ein Arbeitsunfähigkeitszeugnis auszustellen.
Manche Länder haben das Problem gelöst, indem sie einen Vormutterschaftsurlaub gewähren, bei dessen Bezug sich mancherorts der Mutterschaftsurlaub entsprechend verkürzt (dieser ist jedoch in der Regel in anderen europäischen Ländern länger als in der Schweiz). Eine andere Lösung besteht darin, dass bei nicht beanspruchtem Vormutterschaftsurlaub ein Teil davon an den Mutterschaftsurlaub angehängt wird. Diesen Ansatz sollte man vielleicht weiterverfolgen, denn zahlreiche Stimmen fordern eine Verlängerung des Mutterschaftsurlaubs, der als zu kurz erachtet wird.
Künftige Herausforderungen
Die Schwierigkeit besteht darin, eine angemessene Formel für einen Urlaub vor und nach der Geburt zu finden, die der heutigen Scheinheiligkeit ein Ende setzt, gesunde, belastbare Frauen dazu ermutigt, bis zum Ende ihrer Schwangerschaft zu arbeiten, und Frauen nicht benachteiligt, die der Arbeit für längere Zeit fernbleiben müssen. Der Mutterschaftsurlaub ist ein wichtiges Teilchen eines komplexen Puzzles, das etwas angepasst werden muss.
Das ist eine neue Herausforderung, die wir annehmen müssen und die Teil einer umfassenderen Debatte sein muss, bei der es um Vereinbarkeit von Arbeit und Familie, Aufgabenteilung und Gleichstellung in der Paarbeziehung, Vaterschaftsurlaub und Elternurlaub geht.
Nun sind die Väter an der Reihe!
In einer Zeit, in der die im Rahmen des Militärdienstes ausgerichteten EO-Entschädigungen ständig abnehmen, befinden sich die Männer immer mehr in einer ähnlichen Lage wie die Frauen vor 2005: Sie zahlen Beiträge an eine Versicherung, aus der sie immer weniger Leistungen beziehen. Die EO ist ohne Systemänderung in der Lage, den Vätern einen Urlaub nach der Geburt ihrer Kinder zu finanzieren. Dieser könnte sogar noch grosszügiger sein als die Vorlage, die im Parlament auf dem Tisch liegt. Demnächst wird das Parlament nämlich die historische Gelegenheit haben, einen Vaterschafsurlaub einzuführen, der diesen Namen verdient, wenn die Motion des Christdemokraten Martin Candinas 5 für einen bezahlten Vaterschaftsurlaub von 10 Tagen von der mit der Prüfung des Vorschlags beauftragten Kommission des Ständerates gutgeheissen wird. Voraussichtlich steht das Geschäft am kommenden 1. September an.
In der Zwischenzeit sind Väter (und Mütter) eingeladen, auf der Website www.papizeit.ch, einer Initiative von Travail.Suisse in Zusammenarbeit mit Pro Familia Schweiz, Männer.ch, Avanti Papi und Operation Libero, ein Zeichen für die Väter zu setzen – und bei der Kinderwagen-Rallye am 30. August in Bern mitzumachen! Weitere Infos für die Rallye finden Sie unter www.kinderwagen-rallye.ch.
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p(footnote). 1 Die von Travail.Suisse eingerichtete Website www.mamagenda.ch ermöglicht Arbeitnehmerinnen und ihrem Arbeitgeber, Schwangerschaft und Absenzen in einem konstruktiven Dialog optimal zu organisieren, um Konfliktsituationen zu vermeiden, die zu einer Diskriminierung der Frauen am Arbeitsplatz führen könnten.
2 «Sieben Jahre Mutterschaftsentschädigung – eine erste Wirkungsanalyse», Katharina Schubarth, Bundesamt für Sozialversicherungen, in Soziale Sicherheit CHSS 5/12, S. 305-309.
http://www.bsv.admin.ch/dokumentation/publikationen/00096/03158/03222/i…
3 Interpellation 15.3154 Maury Pasquier «Unterbrechung der Berufstätigkeit vor dem Geburtstermin» http://www.parlament.ch/d/suche/Seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20153154
4 « Santé : femmes enceintes, au boulot ! », Marie Maurisse, L’Hebdo, 19. März 2015 http://www.hebdo.ch/hebdo/cadrages/detail/sant%C3%A9-femmes-enceintes-a…
5 Motion 14.415 «Zwei Wochen über die EO bezahlten Vaterschaftsurlaub» http://www.parlament.ch/d/suche/Seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20140415