Mit dem Kompromiss der Sozialpartner vom 22. Februar 2015 soll ein grosser Streitpunkt der letzten Zeit beigelegt werden: die Pflicht zur, resp. den Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung (AZE). Im Grundsatz sind sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter einig, dass in Gesamtarbeitsverträgen für Personen mit sehr grosser Zeitautonomie und einem Jahreseinkommen von mindestens 120‘000 Franken auf die Arbeitszeiterfassung verzichtet werden kann. Die vom SECO in Konsultation gegebene Verordnungsänderung ist jetzt aber mit schwammigen Formulierungen, Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten gespickt und geht teilweise weit über den vereinbarten Kompromiss hinaus. Für Travail.Suisse, den unabhängigen Dachverband der Arbeitnehmenden, besteht nach wie vor viel Klärungs- und Korrekturbedarf.
Die Arbeitszeit ist von zentraler Bedeutung für die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmenden. Folglich sind die Bestimmungen zur Dokumentation der Arbeitszeiten in Artikel 73 der Verordnung 1 zum Arbeitsgesetz (ArGV 1) ein zentraler Pfeiler der Schutzbestimmungen zugunsten des Arbeitnehmers. Für die Kontrolle von zahlreichen essentiellen Schutzbestimmungen des Arbeitsgesetzes, wie z.B. die tägliche und wöchentliche Höchstarbeitszeit, Pausen- und Ruhezeitenregelungen, Bestimmungen zu Nacht- und Sonntagsarbeit, die Erfassung und Kompensation von Überstunden und Überzeit usw. bildet heute die Dokumentation der Erfassung der Arbeitszeiten die Grundlage. Aufgrund dieser gewichtigen Bedeutung der Arbeitszeiterfassung waren ihr fast sämtliche Angestellten auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt unterworfen – mit wenigen Ausnahmen für leitende Angestellte in den Betrieben.
Bereits seit einigen Jahren gibt es aus den Kreisen der Arbeitgeber Bestrebungen, die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung aufzulockern oder gar gänzlich abzuschaffen. Ein Kompromiss unter den Sozialpartnern soll nun ermöglichen, dass in einem Gesamtarbeitsvertrag für bestimmte Arbeitnehmende mit hohen Einkommen und weitgehender Zeitautonomie eine Ausnahme von der Pflicht der AZE geschaffen wird.
Gesamtarbeitsvertrag muss Schutzbestimmungen umfassend regeln
In Bezug auf den Inhalt des Gesamtarbeitsvertrages macht die Verordnung zwei Vorschriften. Nach Absatz 4 lit. a sind besondere Massnahmen für den Gesundheitsschutz und die Einhaltung der gesetzlich festgeschriebenen Pausen vorzusehen. Travail.Suisse unterstützt explizit dieses Erfordernis, verunmöglicht doch der Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung die Überprüfung der Einhaltung der gesetzlichen Pausenregeln und Ruhezeiten. Die Regelung im GAV vermag diesen Kontrollverlust zumindest teilweise zu kompensieren. Es besteht aber aus Sicht von Travail.Suisse ein Widerspruch zwischen dem erläuternden Bericht, der davon spricht, dass der GAV den Bezug der Pausen und Ruhezeiten zu regeln hat, während der Wortlaut der Verordnung lediglich die Pausen beinhaltet.
Für Travail.Suisse ist Absatz 4 lit.a zu wenig umfassend. Ein im Auftrag von Travail.Suisse erstelltes Memorandum des Forschungsinstituts für Arbeit und Arbeitsrecht der Universität St. Gallen erwähnt, dass „durch den Verzicht auf die Erfassung der Arbeitszeit die Lage und Dauer der Pausen, die tägliche Ruhezeit (grundsätzlich mind. 11 Stunden), der wöchentlich freie Halbtag oder Ruhetag sowie die Nacht- und Sonntagsarbeit nicht mehr erfasst werden“. Weiter ortet das Memorandum insbesondere im Bereich der Überstunden und Überzeit Regelungsbedarf, da es „problematisch erscheint, dass für den Arbeitgeber nicht mehr feststellbar ist, wieviel Überzeit/Überstunden geleistet wurde. Dieser muss aber die Möglichkeit besitzen, auf anfallende Überzeit/Überstunden zu reagieren und allenfalls die Arbeit neu zu organisieren. Die Statuierung einer Pflicht des Arbeitnehmers, die Überzeit/Überstunden innert einer bestimmten Zeit geltend zu machen bzw. der Entfall des Anspruchs auf Geltendmachung von Überzeit/Überstunden während dem Zeitraum des Verzichts auf Arbeitszeiterfassung, ist auf Verordnungsstufe nicht möglich, weil solche Bestimmungen gegen Art. 128 Ziff, 3 OR bzw. Art. 341 OR i.V.m. Art 13 ArG verstossen würde. Denkbar wäre stattdessen die Statuierung einer Informationspflicht des Arbeitnehmers bei Überzeit/Überstunden“. Für Travail.Suisse ist klar, dass der GAV die Schutzbestimmungen umfassend regeln muss, was deren expliziter Erwähnung in der Verordnung bedarf.
Bei der Einkommensschwelle muss auf dem Fixgehalt abgestellt werden
Neben der formalen Voraussetzung eines GAV sind auch zwei individuelle Voraussetzungen vorgesehen, um in den Geltungsbereich der neuen Regelung zu gelangen. Einerseits müssen Arbeitnehmer, die zukünftig auf eine Arbeitszeiterfassung verzichten, über eine grosse Autonomie verfügen und ihre Arbeitszeiten grösstenteils selber festsetzen können. Hier ist absehbar, dass durch die schwammige Formulierung eine gewisse Rechtsunsicherheit entsteht, allerdings ist die Autonomie ein zentraler Punkt des Sozialpartnerkompromisses. Problematischer erscheint aus Sicht von Travail.Suisse die zweite individuelle Voraussetzung der Einkommenshöhe. Hier schlägt das SECO 120‘000 Bruttojahreseinkommen vor. Einerseits scheint es nicht sinnvoll, mit 120‘000 Franken eine neue Lohngrenze in die Rechtsgrundlagen aufzunehmen, obwohl mit dem maximal versicherten Verdienst nach UVG (zurzeit 126‘000) bereits eine Lohngrenze existiert, die einerseits nur unwesentlich höher ist und sich andererseits bereits bewährt hat, z.B. bei der Regelung des Lohnprivilegs in Art. 219 Ziff. 4 lit. a SchKG. Absolut falsch und untauglich erscheint uns die vorgeschlagene Inklusion der Boni in diese Lohngrenze. Erstens stossen wir damit mit dem potentiellen Geltungsbereich des Verzichts auf AZE in einen Lohnbereich vor, der nicht mehr mit dem ursprünglichen Ziel der Befreiung von Arbeitszeiterfassung für eine kleine Schicht Kadermitarbeiter mit hohen bis sehr hohen Löhnen übereinstimmt. Zweitens scheint eine solche Regelung schlicht nicht praktikabel zu sein und zusätzlich die Rechtsunsicherheit massiv zu erhöhen. Bei den Boni handelt es sich ja gerade um variable Lohnbestandteile, die nicht zum Voraus bestimmbar sind und typischerweise erst gegen Ende des Kalenderjahres oder erst zu Beginn des folgenden Jahres ausbezahlt werden. Für Personen mit einem Fixgehalt unter 120‘000 Franken lässt sich somit nicht mit Sicherheit sagen, ob sie unter den Geltungsbereich der neuen Verordnungsbestimmung fallen und somit ein Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung rechtmässig ist oder nicht. Zusätzlich kann dies bei Arbeitnehmenden mit einem Einkommen im Bereich der Einkommensschwelle zu einer jährlich wechselnden Erfüllung der Voraussetzung zum Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung führen. Der erläuternde Bericht zur Verordnungsänderung schlägt vor, auf dem AHV-pflichtigen Lohn des Vorjahres abzustützen, was aber die Rechtsunsicherheit nicht zu verhindern mag, wie auch das Memorandum der Universität St. Gallen (S. 3) festhält: „Weiter ist darauf hinzuweisen, dass der Lohn im Zeitraum massgebend sein muss, während dem auf die Arbeitszeiterfassung verzichtet wird, und nicht auf ein Durchschnittswert während der gesamten Anstellungsdauer oder den Lohn im Kontrollzeitpunkt angestellt werden darf“.
Travail.Suisse hält deshalb fest, dass eine Inklusion der Boni hier weder zielführend noch praktikabel ist und fordert, dass für die Einkommensschwelle auf dem Fixgehalt abgestellt wird.
Klärungs- und Korrekturbedarf
Die bis hier aufgeworfenen Problembereiche und Fragestellungen beziehen sich nur auf Art. 73a der ArGV 1 – also die Regelungen zu einem vollständigen Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung. Daneben soll mit der Verordnungsänderung auch die Möglichkeit einer vereinfachten AZE geschaffen werden, bei der zwar noch das Total der geleisteten täglichen Arbeitszeit, aber nicht mehr deren Lage (Anfang und Ende der Arbeitszeit) dokumentiert werden muss. Auch bei diesem Art. 73 b der ArGV 1 besteht noch erheblicher Klärungsbedarf, insbesondere weil die vorgeschlagenen Lösung in der Verordnung weit über die bisher gültige Lösung in der Weisung des SECO hinausgeht (zur detaillierteren Darstellung der Problembereiche bei der vereinfachten Arbeitszeiterfassung in der vollständigen Konsulatationsantwort von Travail.Suisse).
Aus Sicht von Travail.Suisse besteht bei der vorgeschlagenen Umsetzung des Kompromisses der Sozialpartner auf Verordnungsstufe noch erheblicher Klärungs- und Korrekturbedarf. Es empfiehlt sich bei der Erarbeitung der Verordnungsvorlage auf Basis des Kompromisses die nötige Sorgfalt walten zulassen. Für Travail.Suisse ist klar, dass vor dem Inkrafttreten der neuen Verordnungsbestimmung die Unklarheiten, Rechtsunsicherheiten und Widersprüche beseitigt werden müssen.
Travail.Suisse fordert den Bundesrat auf, diese Anliegen zu berücksichtigen und eine sorgfältige anstelle einer schnellstmöglichen Umsetzung anzustreben.