Die Revision IV 6b befindet sich in der Differenzbereinigung. Dabei geht es auch um Tabubrüche in den Sozialversicherungen: um die Kürzung von laufenden Renten sowie um automatische Rentenkürzungen im Rahmen eines Interventionsmechanismus. Zudem besteht die Gefahr, dass das neue Rentensystem als Deckmantel für Rentenkürzungen bei den Schwerbehinderten dient. Angesichts der positiveren finanziellen Perspektiven der IV sind solche Einschnitte völlig fehl am Platz. Die immer härtere Gangart mit den IV-Betroffenen muss nun ein Ende haben.
Die IV-Revision 6b ist die vorerst letzte der ambitiösen Reformen, mit denen der Druck des Schuldenbergs auf die IV-Betroffenen überwälzt werden soll. Das Tempo der bisherigen Reformschritte war hoch, Evaluationen zu den vorgenommenen Massnahmen wurden nicht abgewartet. So bleibt unklar, ob die tiefere Zahl der IV-Rentner/innen den getroffenen gesetzlichen Massnahmen oder vor allem der härteren Gangart der Gerichte bei der Rentenzusprechungspraxis geschuldet ist. 2011 trat die Zusatzfinanzierung mit 0.4 Prozent Mehrwertsteuer in Kraft. Und erst letztes Jahr trat die Revision 6a in Kraft, die 17‘000 IV-Rentner/innen wieder in den Arbeitsmarkt eingliedern will.
Bessere finanzielle Ausgangslage
Tatsache ist, dass sich die finanziellen Aussichten der IV im Verlauf der letzten Jahre massiv verbessert haben. Heute ist die IV zwar mit rund 14.5 Milliarden Franken auf Grund von Altlasten bei der AHV verschuldet. Aber die Zeit der Defizite ist vorbei. Im Jahr 2012 machte die IV rund 600 Millionen Franken Gewinn und konnte Schulden zurückzahlen. Bis zum Ende der Zusatzfinanzierung 2017 kann die IV so bereits einen beträchtlichen Teil ihrer Schulden abbauen. Aber auch nach Ende der Zusatzfinanzierung wird die IV weiter Überschüsse schreiben, und zwar auch ohne die Revision 6b. 1
Entschuldung innert nützlicher Frist
Damit wird eine Entschuldung der IV vor 2030 realistisch. Das ursprüngliche Ziel kann damit mit oder ohne 6b erreicht werden. Zur Entschuldung der IV braucht es deshalb keine weiteren schmerzhaften Einschnitte. Es geht finanziell einzig um die Frage, ob die IV zwei bis drei Jahre früher oder später schuldenfrei sein soll. Immerhin hat das Parlament dies teilweise erkannt. So wurde die Kürzung der Kinderrenten in der Differenzbereinigung von beiden Räten aus dem Paket gestrichen.
Rentenkürzungen ohne Not bei Schwerbehinderten
Der Ständerat hat allerdings ansonsten seine harte Linie beibehalten und schreckt vor Rentenkürzungen bei den Schwerbehinderten nicht zurück. Das ist angesichts der positiven finanziellen Entwicklungen unverständlich. So sollen im Rahmen des neuen Rentensystems bei IV-Rentner/innen mit einem IV-Grad zwischen 60 und 79 Prozent die Renten um bis zu 30 Prozent gekürzt werden. Betroffen von den Kürzungen wäre ein Fünftel aller neu gesprochenen Renten.
Keine Verbesserung der Eingliederung durch Rentenkürzungen
Heute gibt es ab einem IV-Grad von 60 Prozent eine Dreiviertelrente, ab einem IV-Grad von 70 Prozent eine ganze Rente. Wer darüber hinaus ein kleines Erwerbseinkommen erwirtschaften kann, kann damit seine Rente aufbessern. Bei einem IV-Grad ab 70 Prozent herrscht somit ein maximaler Erwerbsanreiz, weil in dieser Situation das ganze Erwerbseinkommen behalten werden kann. Weil aber nur wenige Schwerbehinderte überhaupt eine Anstellung finden, bleibt es meistens bei der IV-Rente. Nach dem Willen des Ständerates soll es nun erst ab einem IV-Grad von 80 Prozent eine ganze Rente geben, wenn die Betroffenen keine Stelle finden. An den Schwierigkeiten, als Schwerbehinderter eine Stelle zu finden, ändert dies aber nichts. Wenn dann jemand trotzdem eine Stelle findet und ein Zusatzeinkommen durch Erwerbstätigkeit erzielt werden kann, wird dieses an die Rente angerechnet und die Rente noch gekürzt. Was solche Kürzungen mit den im Rahmen der IV-Revisionen immer wieder vorgebrachten verbesserten Eingliederungsmöglichkeiten zu tun haben, bleibt schleierhaft.
Groteske Effekte bei laufenden Renten
Anders als der Ständerat hat der Nationalrat einer nahezu kostenneutralen Umsetzung des neuen Rentensystems zugestimmt (Antrag Lohr). Es gäbe damit für die meisten weiterhin ab einem IV-Grad von 70 Prozent eine ganze Rente. Aber auch in diesem Modell gibt es Verlierer. Wer einen IV-Grad zwischen 60 und 69 Prozent hat, dem wird die Rente auch hier gekürzt. Das sind immer noch 11 Prozent der Neurenten. Verheerender ist jedoch, dass der Nationalrat auch die laufenden Renten von rund 15‘000 Betroffenen kürzen will. Betroffen sind auch diejenigen Schwerbehinderten ab IV-Grad 70 Prozent, die ein Zusatzeinkommen erwirtschaften. Ein realer Fall zeigt, dass dies zu grotesken Effekten führen kann: Frau M. ist blind und hat einen IV-Grad von 82 Prozent. Heute bekommt sie eine ganze Rente. Damit kommt sie bisher auf eine IV-Rente von 2190 Franken. Sie arbeitet als Telefonistin und kann einen Zusatzverdienst von rund 1500 Franken erzielen, den sie heute behalten kann. Unter dem Titel Erwerbsintegration wird Frau M. im neuen System nicht mehr eine ganze Rente erhalten, sondern nur noch eine 82 Prozent-Rente (1795 Franken). Sie verliert somit 395 Franken, weil ihr Zusatzeinkommen neu angerechnet wird. Weil sie arbeitet, wird ihr die laufende Rente gekürzt. Wer soll ihr dies erklären?
Tabubruch: Kürzung laufender Renten
Für Travail.Suisse ist klar: Die Kürzung von laufenden Renten ist ein Tabubruch. Nebst der Hiobsbotschaft für die Betroffenen stellt sie zudem das Vertrauen in das ganze Sozialversicherungssystem in Frage. Die Rechtssicherheit ist ein hohes Gut. Sie darf nicht aufs Spiel gesetzt werden, nur um die IV wenige Jahre schneller zu entschulden. Das neue lineare Rentensystem ist nur akzeptabel, wenn es mindestens ab einem IV-Grad von 70 Prozent weiterhin eine volle Rente gewährleistet. Denn schwerbehinderte Personen haben am meisten Schwierigkeiten, sich beruflich einzugliedern. Daran ändert auch 6b nichts. Ihnen die Renten unter dem Deckmantel des neuen Rentensystems zu kürzen, ist inakzeptabel.
Keine automatischen Rentenkürzungen beim Interventionsmechanismus
Bundesrat und Ständerat wollen im Falle eines Absinkens des IV-Vermögens unter die Schwelle von 40 Prozent einer Jahresausgabe einen Automatismus vorsehen, der – nebst Zusatzeinnahmen – die IV-Renten einfriert. Die IV-Renten würden damit nicht mehr der Lohn- und Preisentwicklung angepasst wie in der AHV. Real entspricht dies einer automatischen Rentenkürzung. Der Vorschlag soll auch als Vorbild für eine spätere AHV-Schuldenbremse dienen. Travail.Suisse lehnt einen solchen Blankocheck für weitere Rentenkürzungen dezidiert ab. Die erste Säule würde mit unterschiedlich hohen Renten aufgesprengt, wenn AHV und IV jede in Abhängigkeit ihrer Finanzlage unterschiedliche Renten bezahlten. Die Koordinationsprobleme sind ein hoher Preis für allenfalls nur geringe Ersparnisse. Im Falle einer erneut verschlechterten Finanzlage der IV muss der Bundesrat mehrheitsfähige Reformen vorlegen. Hier muss der Ständerat auf die Linie des Nationalrats einschwenken, welcher einen solchen Automatismus deutlich verworfen hat. Ansonsten droht auch auf Grund der Signalwirkung auf andere Sozialwerke ein Referendum.