Knapp 15 Jahre nach der Einführung der Personenfreizügigkeit und drei Jahre nach Annahme der Masseneinwanderungsinitiative hat sich der Vorstand von Travail.Suisse an seiner Klausur intensiv mit den Auswirkungen der bilateralen Verträge auseinandergesetzt. Dabei wurden die ökonomischen Vorteile der bilateralen Verträge für die Schweiz ebenso beleuchtet wie die daraus resultierenden realen und politischen Probleme für die Arbeitnehmenden. Als Fazit ist für Travail.Suisse klar, dass die Personenfreizügigkeit ohne effektiven und andauernden Schutz der Lohn- und Arbeitsbedingungen und ohne weitere Massnahmen zur verbesserten Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials nicht zukunftsfähig ist.
Der Vorstand von Travail.Suisse hat seine ganztägige Klausur zu Beginn dieser Woche dem Themenbereich bilaterale Verträge, Personenfreizügigkeit und Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt gewidmet. Um den volkswirtschaftlichen Nutzen bzw. die ökonomischen Kosten eines Wegfalls der bilateralen Verträge mit der EU ging es im Input-Referat von Martin Eichler, Chefökonom der BAK Basel. Eine Bestandesaufnahme zum System der flankierenden Massnahmen der Personenfreizügigkeit machte Gabriel Fischer, Leiter Wirtschaftspolitik bei Travail.Suisse. Mit Lugano als Ort der Klausur lag ein Fokus auch auf der Grenzregion Tessin. Über die spezifischen Herausforderungen und Massnahmen informierte Renato Ricciardi, Co-Präsident der OCST, der grössten Gewerkschaftsorganisation des Tessins.
Bilaterale Verträge erhalten – Freizügigkeitsrendite gerechter verteilen
Der Vorstand von Travail.Suisse anerkennt die grosse volkswirtschaftliche Bedeutung der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union. Eine kleine, offene und exportorientierte Volkswirtschaft wie die Schweiz ist angewiesen auf geregelte Beziehungen mit den wichtigsten Handelspartnern. Gleichzeitig ist für Travail.Suisse als Dachverband der Arbeitnehmenden die Akzeptanz der Personenfreizügigkeit und der damit verbundenen unbeschränkten Konkurrenz der inländischen Arbeitskräfte nicht einfach selbstverständlich. Mit der Einführung der Personenfreizügigkeit wurde das politische Versprechen abgegeben, dass mit effektiven flankierenden Massnahmen dafür gesorgt wird, dass die Lohn- und Arbeitsbedingungen in der Schweiz geschützt werden – dieses Versprechen muss eingehalten werden! Einigkeit herrscht im Vorstand von Travail.Suisse auch darüber, dass es eine weitere Verbesserung bei der Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials und eine gerechtere Verteilung der Freizügigkeitsrendite braucht, damit die Personenfreizügigkeit politisch akzeptiert bleibt.
Effektiver und andauernder Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen
Die flankierenden Massnahmen (FlaM) zur Personenfreizügigkeit sind starke Instrumente zum Schutz der Löhne und Anstellungsbedingungen und zur Bekämpfung von Missbräuchen auf dem Arbeitsmarkt, ist sich der Vorstand von Travail.Suisse einig. Gleichzeitig bekräftigt er aber die Wichtigkeit eines kontinuierlichen Ausbaus und einer Optimierung der FlaM. Es gilt insbesondere den Anteil der Arbeitnehmenden zu erhöhen, die durch verbindliche Mindestlöhne geschützt werden. Mit einer Abdeckung über einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) von rund 50% liegt die Schweiz im europäischen Vergleich deutlich zurück. Es braucht dringend eine Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von GAV, um mehr Arbeitnehmende unter den Schutz der GAV zu stellen. In Branchen ohne GAV sind konsequent Normalarbeitsverträge (NAV) zu erlassen. Es ist bezeichnend, dass von den 24 kantonalen NAV, deren 21 in den Kantonen Genf und Tessin erlassen wurden. Weiter ist das angedachte Projekt der Einführung von GAV-Bescheinigungen raschestmöglich umzusetzen. Nur mit einem Beleg der Einhaltung der GAV-Bestimmungen kann z.B. im öffentlichen Beschaffungswesen sichergestellt werden, dass Vergaben nicht an Unternehmen erfolgen, welche die Löhne und Arbeitsbedingungen unterbieten.
Inländisches Arbeitskräftepotenzial: Stellenlosenvorrang als erster Schritt
Ein Schritt in die richtige Richtung ist der Stellenlosenvorrang, den das Parlament im Dezember als Umsetzung von Artikel 121a der Bundesverfassung beschlossen hat. Der Vorstand von Travail.Suisse fordert jetzt aber eine konsequente Umsetzung dieses Vorranges, so dass die Arbeitsmarktaussichten von benachteiligten, arbeitslosen Personen auch effektiv verbessert werden können. Daneben ist auch eine Reaktivierung der Fachkräfteinitiative zur besseren Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials angezeigt. Dazu braucht es einen Sonderkredit für eine Weiterbildungsoffensive zugunsten der älteren Arbeitnehmenden. Weiter ist die Nachholbildung für Arbeitnehmende ohne Berufsabschluss und der Wiedereinstieg von Frauen nach der Familienpause mit Nachdruck zu fördern. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie muss vereinfacht und finanziell tragbarer werden. Den Problemen der Jugendlichen beim Einstieg in den Arbeitsmarkt (missbräuchliche Praktika und befristete Anstellungen anstatt regulärer Beschäftigung) ist verstärkt Beachtung zu schenken und die Verschlechterungen aus der letzten Revision des Arbeitslosenversicherungsgesetzes (AVIG) müssen analysiert und korrigiert werden.
Der Vorstand von Travail.Suisse ist überzeugt, dass die Personenfreizügigkeit nur mit effektiv geschützten Löhnen und Arbeitsbedingungen, einer verbesserten Integration von Jugendlichen in den Arbeitsmarkt, einer erhöhten Arbeitsmarktpartizipation von Frauen und dem gesicherten Verbleib von älteren Arbeitnehmenden im Arbeitsmarkt, eine Zukunft hat und nur damit sichergestellt werden kann, dass der bilaterale Weg mit der Europäischen Union nachhaltig ist.
Für weitere Informationen:
Adrian Wüthrich, Präsident, Tel. 079 287 04 93