Gestern wurde die erste nationale Plattform mit Informationen und Ressourcen für berufstätige betreuende Angehörige lanciert: www.info-workcare.ch. So reagiert Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, auf die Problematik der Vereinbarkeit von «work and care». In der Bundespolitik wird dieses Thema zwar schon seit mehreren Jahren diskutiert, doch berufstätige Angehörige können darauf nicht warten, sondern müssen jetzt entlastet werden. In erster Linie beim Sammeln von Informationen.
Die konsensorientierte Politik in der Schweiz ist sehr langsam, während die Schwierigkeiten, mit denen die betreuenden Angehörigen im Alltag konfrontiert werden, akut sind. Eines der wichtigsten Bedürfnisse der Betroffenen ist das Sammeln von vielen verschiedenen Informationen aus unterschiedlichen Quellen. Folglich besteht für Partner, Töchter und Söhne der Personen, die im Alltag Hilfe benötigen, einer der ersten Schritte darin, diese Angaben zusammentragen. Es ist ausserordentlich zeitaufwändig, nützliche Informationen zu suchen, und manchmal braucht es dazu spezifische Kenntnisse in bestimmten Bereichen. Daher hat Travail.Suisse beschlossen, eine nationale Plattform mit Informationen für berufstätige betreuende Angehörige ins Leben zu rufen. Mit www.info-workcare.ch stellt der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, Travail.Suisse, eine kostenlose dreisprachige Website zur Verfügung, die Adressen, allgemeine (finanzielle und rechtliche) Informationen, nützliche Tipps und Hilfsmittel umfasst, um so die Vereinbarkeit von Privat- und Berufsleben zu verbessern.
Was ist überhaupt «Care-Arbeit»?
In Zusammenarbeit mit zahlreichen Fachleuten verschiedener Verbände sowie mit Organisationen aus Berufswelt und Forschung wurden die Inhalte und der Aufbau von info-workcare.ch erarbeitet. Ganz zu Beginn musste definiert werden, was Care-Arbeit überhaupt ist. Travail.Suisse hat beschlossen, sich auf die Definitionen des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann zu stützen, das verschiedene Referenzwerke zum Thema herausgegeben hat 1 .
Es gibt zwei Arten von Care-Arbeit: die direkte und die indirekte Care-Arbeit. «Direkte» Care-Arbeit umfasst direkte Pflege, Betreuung und Erziehung, aber auch die Verantwortung für die Betreuungsaufsicht. Dazu gehört die Planung der Arbeit verschiedener Betreuungspersonen und -institutionen. In der Schweiz betreuen 35 % der ständigen Wohnbevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren regelmässig Kinder oder Erwachsene. Dies entspricht 1,9 Millionen Menschen. Das Volumen der direkten Care-Arbeit beträgt über 80 Milliarden Franken pro Jahr.
Die «indirekte» Care-Arbeit ist Hausarbeit, die im Zusammenhang mit der Betreuung der Familie anfällt (Kochen, Putzen, Waschen, Einkaufen usw.), d. h. alle wichtigen Aufgaben, die von den Betreuungsbedürftigen in der Regel nicht selbst erledigt werden können. Das Volumen der indirekten Care-Arbeit wird auf 20 Milliarden Franken pro Jahr beziffert.
Eine bessere Aufteilung der Care-Arbeit zwischen Mann und Frau fördern
Dieses Projekt hat finanzielle Unterstützung gemäss dem Gesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann erhalten, da Frauen bekanntermassen die meiste Care-Arbeit leisten und deshalb auf dem Arbeitsmarkt weniger aktiv sein können. Manchmal ist es gar unmöglich, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, weshalb sie ihren Beruf aufgeben. Diese Entscheidung, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen oder den Beschäftigungsgrad drastisch zu reduzieren, beeinträchtigt die Zukunft der Frauen punkto sozialer Absicherung. Es kommt tatsächlich nicht selten vor, dass sich Paare über 50 scheiden lassen. Die Jahre, in denen sich die Frauen fast ausschliesslich um den Partner, ihre Eltern oder ihre Schwiegereltern gekümmert haben, lasten schwer auf ihrer künftigen Pensionierung, da ihre Rente stark reduziert ist. Die Gutschriften für Betreuung und Pflege von erwachsenen Angehörigen werden in der Sozialkommission des Nationalrats thematisiert. Doch bevor zufriedenstellende Lösungen umgesetzt werden können, werden noch viele Jahre vergehen.
Dank Projekten wie info-workcare.ch nimmt die Sensibilisierung für dieses Thema zu. Travail.Suisse will die generationsübergreifende Betreuung innerhalb der Familien fördern. Gewiss braucht es diese Unterstützung aus makroökonomischer Sicht, da dieses absolut unerlässliche geleistete Arbeitsvolumen sich auf viele Milliarden pro Jahr beläuft. Insbesondere wird diese Hilfe von den Personen gewünscht, die sie beanspruchen, aber auch von den betreuenden Angehörigen, die sich gern und unkompliziert um ihre älteren Angehörigen kümmern. Für sie zählen zunächst der Zusammenhalt und das Gefühl, ihren Angehörigen endlich etwas zurückgeben zu können. Für Travail.Suisse ist es wichtig, dass alle, Männer wie Frauen, ihren Anteil leisten. Diese noble Aufgabe, Angehörige zu unterstützen, betrifft alle und darf nicht nur ein «Privileg» der Frauen sein.
Offizielle Anerkennung als betreuende Angehörige – die unerlässliche Grundlage
Würde der Status der betreuenden Angehörigen offiziell anerkannt, zum Beispiel indem eine geringe Pflegeentschädigung seitens des Bundes eingeführt oder eine Auszeit finanziert würde, könnten viele betreuende Angehörige in der Schweiz zu dieser Aufgabe stehen und auch ihrem Arbeitgeber gegenüber offen über ihre Situation reden. Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates (SGK) wird bald darüber diskutieren. Nach einer solchen Anerkennung werden die betreuenden Angehörigen entsprechende Anpassungen an ihrem Arbeitsplatz aushandeln können. So könnte verhindert werden, dass sie selbst erkranken. Denn die Spannungen, die aus der schwierigen Vereinbarkeit von Beruf und der Betreuung von Angehörigen resultieren, führen häufig zu Erschöpfungszuständen.
Aber auch andere Aspekte von «work and care» verdienen Aufmerksamkeit, u. a. die Deckung in der zweiten Säule bei Personen, die ihren Beschäftigungsgrad reduzieren, um sich um ihren älteren und/oder kranken Partner zu kümmern. Stefan Müller-Altermatt, Präsident von transfair, hat an der letzten Session ein Postulat eingereicht, das den Bundesrat bittet, diese Situation zu prüfen. Seine Idee besteht darin, den Arbeitgeberanteil aus einem staatlichen Fonds zu finanzieren.
Bezieht eine betreuende angehörige Person eine Arbeitslosenentschädigung und ist sie auf Stellensuche, muss sie jede zumutbare Arbeit, die ihr angeboten wird, annehmen. Im Moment sehen die von den RAV angewandten Kriterien eine Bestrafung vor, sollte die Arbeit suchende Person eine Arbeit ablehnen; die bereits vorhandene Care-Situation wird nicht berücksichtigt. Aus diesem Grund verlangt ein weiterer von Müller-Altermatt eingereichter Vorstoss, eine Motion, eine Anpassung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes, damit die Care-Aufgaben bei der Bestimmung einer zumutbaren Arbeit in Betracht gezogen werden.
Wann gibt es einen «Nationalen Tag der betreuenden Angehörigen»?
Auch hier steht die Anerkennung des Status als «betreuende Angehörige» im Vordergrund. Denn Nachforschungen zeigen, dass der Status betreuender Angehöriger auf dem Arbeitsmarkt nicht existiert. In den verschiedenen Pflegeeinrichtungen für die Angehörigen ist aber langsam ein Wandel spürbar. So haben die Westschweizer Kantone eine Vorreiterrolle inne, indem sechs von ihnen im dritten Jahr in Folge am Sonntag, 30. Oktober, den «Westschweizer Tag der betreuenden Angehörigen» 2 durchführen, d. h. fünf Tage nach der Lancierung von info-workcare.ch.
Diese Westschweizer Sensibilierungs- und Informationsinitiative sollte auf die ganze Schweiz ausgedehnt werden. Doch vorher muss in mehreren Deutschschweizer Kantonen bei den kantonalen Behörden, aber auch bei verschiedenen Organisationen noch einige Arbeit geleistet werden, wie dies der Kanton Waadt seit einigen Jahren bereits macht. Die Aufschaltung von info-workcare.ch wird zweifellos einen Beitrag dazu leisten.
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p(footnote). 1 «Absicherung unbezahlter Care-Arbeit von Frauen und Männern. Anpassungsbedarf des Sozialstaats in Zeiten sich ändernder Arbeitsteilung.» 2012, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, Bern.
«Anerkennung und Aufwertung der Care-Arbeit. Impulse aus Sicht der Gleichstellung.» 2010, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann, Bern.
2 http://betreuende-angehoerige-tag.ch