Die mangelnde menschenwürdige Arbeit in den globalen Lieferketten bildete einen der Schwerpunkte der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK), die am 11. Juni in Genf zu Ende ging. Hoffentlich wird der Auftrag der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) effektiv zu einer menschenwürdigeren Arbeit in den weltweiten Wertschöpfungsketten führen. Der IAO-Ausschuss für die Durchführung der Normen hat die Notwendigkeit betont, Wanderarbeitnehmende über die internationale Zusammenarbeit besser zu schützen.
_Hélène Agbémégnah, Leiterin Migrationspolitik und Rechtsfragen Travail.Suisse, und
Denis Torche, Leiter Umwelt-, Steuer- und Aussenpolitik Travail.Suisse_
Unter globalen Lieferketten wird die grenzüberschreitende Organisation der Tätigkeiten verstanden, die für die Herstellung von Gütern oder die Erbringung von Dienstleistungen erforderlich sind, einschliesslich aller Schritte von der Produktion bis zur Vermarktung. Die globalen Wertschöpfungsketten sind in Sektoren wie Textil oder Elektronik bekannt, aber sie finden sich auch in anderen Wirtschaftssektoren (Tourismus, Unterhaltungsindustrie, Tee und Plantagen usw.). Diese Ketten zeichnen sich häufig dadurch aus, dass die Unternehmen, die als Auftraggeber auftreten (z. B. Apple in der Elektronik oder H&M im Textilbereich), einen Grossteil ihrer Produktion an Subunternehmer ausgelagert haben – häufig in Asien –, die selbst die Produktion wiederum an Subunternehmer übertragen. Bei diesem System, bei dem sich die Produktion über eine ganze Kette aufteilt und wo die Hauptunternehmen grossen Termin- und Preisdruck ausüben, herrschen insbesondere zuunterst in der Kette katastrophale Arbeitsbedingungen zu Hungerlöhnen und manchmal auch mit Zwangs- oder Kinderarbeit.
Tragödie in Bangladesch löst Handeln der IAO aus
Die Rentabilität um jeden Preis birgt auch beträchtliche Risiken für die Gesundheit und die Arbeitssicherheit. So kamen in Bangladesch 2013 beim Einsturz des Rana Plaza, wo viele Textilarbeiterinnen und -arbeiter beschäftigt waren, 1138 Arbeiterinnen und Arbeiter ums Leben. Sie arbeiteten für grosse westliche Kleidermarken. Genau dieses tragische Ereignis hat den IAO-Verwaltungsrat dazu bewogen, die menschenwürdige Arbeit in den globalen Lieferketten zum Schlüsselthema der Internationalen Arbeitskonferenz 2016 zu machen.
Der betreffende Ausschuss hat einstimmig eine Resolution und eine Reihe von Schlussfolgerungen verabschiedet, die der IAO den klaren Auftrag erteilen, die schwerwiegenden Defizite im Bereich der menschenwürdigen Arbeit in den globalen Lieferketten aufzuheben. Ein Konsens zwischen Regierungen, Arbeitgebern und Arbeitnehmenden wurde gefunden, wobei anerkannt wurde, dass die bestehenden Normen der IAO hinsichtlich der Umsetzung von menschenwürdigen Arbeitsbedingungen in den Lieferketten nicht angepasst werden können. Daher wird ein neues Dreiertreffen oder eine Expertentagung einberufen, um zu prüfen, «welche Ausrichtungen, Programme, Massnahmen, Initiativen oder Normen für die Förderung der menschenwürdigen Arbeit erforderlich sind und/oder die Verringerung der Lücken bei der menschenwürdigen Arbeit in globalen Lieferketten bewirken können».
Auch die Migration war Diskussionsthema
In diesem Jahr hat der Ausschuss für die Durchführung der Normen Fälle von 24 Mitgliedstaaten geprüft, denen grobe Mängel in Bezug auf gewisse internationale Übereinkommen zum Schutz der Arbeitnehmerrechte vorgeworfen werden. Neben diesen spezifischen Fällen stand auch eine allgemeine Untersuchung zum Thema Migration auf der Tagesordnung des Ausschusses. Es zeigte sich, dass die wirksame Steuerung der internationalen Migration von Arbeitskräften und die Rechte der Arbeitnehmenden ebenfalls mit anderen von der IAO geprüften Themen zusammenhängen. Tatsächlich umfassen einige Themenkomplexe auch Fragen betreffend Migranten, wie gerechte Rekrutierung, Gleichbehandlung und Diskriminierungsverbot, Wirtschaftsentwicklung oder die grundlegenden Prinzipien und Rechte bei der Arbeit. Es ist übrigens offensichtlich, dass die Gründe der derzeitigen Migrationsflüsse hauptsächlich im Zusammenhang mit der Arbeit stehen.
In seinen Schlussfolgerungen erinnert der Ausschuss für die Durchführung der Normen daran, dass die Instrumente, die Wanderarbeitnehmer schützen sollen, eine internationale Zusammenarbeit bedingen, damit die Rechte auf die besonderen Umstände jedes Landes abgestimmt werden können. Eines der wichtigsten Ziele besteht darin, die grundlegenden Menschenrechte der Wanderarbeitnehmer unabhängig von ihrem rechtlichen Status festzustellen, um Diskriminierungen zu bekämpfen und um Chancengleichheit und Gleichbehandlung zu gewährleisten. Der Ausschuss ist der Ansicht, dass die Wanderarbeitnehmer die Innovation und die Kompetenzen stärken und dass sie gewisse Bedürfnisse auf dem Arbeitsmarkt erfüllen können. Ausserdem hat er die Probleme der Migrantinnen hervorgehoben, die wegen ihrer Verletzlichkeit in verschiedener Hinsicht eine grosse schutzbedürftige Gruppe darstellen. Travail.Suisse begrüsst die wertvolle Arbeit der Experten, mit der wichtige Problematiken bezüglich Migration und Arbeitnehmerschutz angegangen werden können. Heute ist ein Blick auf die internationale Lage von noch grösserer Bedeutung, da die nationale Migrationspolitik auch vom internationalen Kontext beeinflusst wird.
Die IAK behandelt dieses Jahr noch vier weitere Themen: 1) Beendigung der Armut, 2) Menschenwürdige Arbeit für Frieden, Sicherheit und Resilienz, 3) Erklärung der IAO über soziale Gerechtigkeit und 4) Änderungen des Seearbeitsübereinkommens. 1) Die Delegierten haben einen Bericht mit dem Titel «Die Initiative zur Beendigung von Armut: Die IAO und die Agenda 2030» geprüft, in dem auf die Ziele für nachhaltige Entwicklung, die im Herbst 2015 von der UNO-Generalversammlung verabschiedet wurden, verwiesen wird. Ziel 8 für nachhaltige Entwicklung will beispielsweise ein dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern. 2) Eine erste Diskussion hat stattgefunden, um die Empfehlung (Nr. 71) betreffend den Arbeitsmarkt (Übergang vom Krieg zum Frieden, 1944) zu revidieren, damit sie den heutigen Umständen Rechnung trägt. Dabei soll insbesondere die Rolle des Arbeitsmarktes in solchen Zeiten des Übergangs gestärkt werden. Die Diskussion wird nächstes Jahr fortgesetzt und sollte zur Revision der Empfehlung führen. 3) In Bezug auf die Erklärung der IAO über soziale Gerechtigkeit wurde eine Resolution verabschiedet, um das Potenzial der Erklärung in vollem Umfang zu verwirklichen, insbesondere dadurch, dass menschenwürdige Arbeit in nationale Strategien für nachhaltige Entwicklung integriert wird. 4) Eine Änderung des Seearbeitsübereinkommens sollte im Rahmen des Gesundheitsschutzes sowie der Sicherheit und der Unfallverhütung Belästigung und Mobbing an Bord von Schiffen unterbinden.
Der Bundespräsident trifft die Schweizer Sozialpartner an der Konferenz
An der diesjährigen IAK hat auch Bundespräsident Johann Schneider-Ammann teilgenommen, der vor der Plenarversammlung die Bedeutung des sozialen Dialogs betonte. An dem Tag hat die Schweiz mit der IAO ausserdem eine Absichtserklärung betreffend Entwicklungshilfe unterzeichnet. Während über einer Stunde konnten sich auch die an der IAK anwesenden Schweizer Sozialpartner mit Bundesrat Johann Schneider-Amman unterhalten und verschiedene Themen ansprechen wie die Angst vor einer Roboterisierung der Arbeit (Digitalisierung und Zukunft der Arbeit) sowie die Frage der Unzulänglichkeit des schweizerischen Rechts beim Schutz vor antigewerkschaftlichen Entlassungen.