Obwohl das neue Weiterbildungsgesetz auf die Selbstverantwortung der Arbeitnehmenden setzt, sollen die öffentlichen und privaten Arbeitgeber die Weiterbildung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemäss Gesetz „begünstigen“. Zusammen mit der allgemeinen Fürsorgepflicht nach Artikel 328 Obligationenrecht sind die Arbeitgeber gefordert, aktiv zu werden. Travail.Suisse erwartet, dass die Arbeitgeber ihre Mitarbeitenden im Hinblick auf die Weiterbildung fördern und unterstützen.
Als Travail.Suisse am 23. Oktober 2009 seine Forderungen zum Weiterbildungsgesetz präsentiert hat, stellten wir das Weiterbildungsobligatorium als zielführende Massnahme dar. Mit dem ersten eidgenössischen Weiterbildungsgesetz, das am 1. Januar 2017 in Kraft tritt, wird kein Obligatorium stipuliert. Trotzdem ist dieses Gesetz ein Meilenstein in der Lebenswelt der Arbeitnehmenden. Travail.Suisse hat die Schaffung dieses Gesetzes massgeblich geprägt und sieht seiner Inkraftsetzung mit Freude und Genugtuung entgegen. Weiterbildung ist zum Erhalt und Ausbau der Arbeitsmarktfähigkeit der Arbeitnehmenden von zentraler Bedeutung – gerade für die älteren Arbeitnehmenden ab 50 Jahren. Sind sie gut ausgebildet und auf dem neusten Stand des Wissens, sind ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt intakt.
Die aktuelle wirtschaftliche Grosswetterlage ist für die Arbeitnehmenden nicht rosig. Der Trend bei den Arbeitslosenzahlen zeigt nach oben. Die Frankenstärke, die Demografie, der Fachkräftemangel und die Migration erhöhen den Druck auf die Arbeitnehmenden. Von ihnen wird Flexibilität und Anpassung an die neuen Gegebenheiten gefordert. Die Beschränkung der Zuwanderung aufgrund der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative und die dadurch nötige bessere Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials erfordern eine ständige Verbesserung der Fähigkeiten der Arbeitnehmenden. Die Welt ist komplexer geworden und das einmal erworbene Wissen muss ständig erneuert werden. Von besonderer Brisanz sind gegenwärtig vor allem die Digitalisierung der Welt und die neuen sozialen Medien. Das lebenslange Lernen ist Realität geworden.
Das neue Weiterbildungsgesetz weist die Verantwortung klar den Individuen zu. Hinter der scheinbar einfachen Aussage „Der einzelne Mensch trägt die Verantwortung für seine Weiterbildung“ steckt aber eine komplexe und vielfältige Aufgabe. Es geht darum, eine Weiterbildungsstrategie zu entwickeln, welche Dequalifizierungen vorbeugt, Antworten auf mögliche Gesundheitsprobleme bereit hält, die berufliche Motivation bewahrt, Berufswechsel und horizontale Karrieren ermöglicht, und zwar in einem Umfeld, das sowohl von persönlichen, technologischen und betrieblichen Veränderungen wie auch von einer überaus vielfältigen Bildungswelt mit unterschiedlichsten Angeboten geprägt ist. Es wäre vermessen zu behaupten, der Einzelne könne unter allen Bedingungen seine Verantwortung im Bereich der Weiterbildung wahrnehmen. Je nach Situation muss er unterstützt werden.
Das weiss auch das Weiterbildungsgesetz WeBiG. Es verlangt daher zum Beispiel von Bund und Kantonen, dass sie „Voraussetzungen schaffen, die allen Personen die Teilnahme an Weiterbildung ermöglichen“ (vgl. Art. 4.b WeBiG). Von Organisationen der Weiterbildung, dass sie unter anderem „Informations- und Koordinationsaufgaben“ übernehmen (vgl. Art. 12.1 WeBiG). Und von öffentlichen und privaten Arbeitgebern, dass sie die Weiterbildung ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „begünstigen“ (vgl. Art. 5.2 WeBiG).
Das Wort „begünstigen“ lässt sich nicht mit „Nichtstun“ interpretieren. Im Gegenteil: Das neue WeBiG fordert von den Arbeitgebern, die Weiterbildung ihrer Angestellten in den Unternehmen zum Thema zu machen. Die Botschaft des Bundesrates zum Weiterbildungsgesetz verknüpft Artikel 5.2 WeBiG mit der Fürsorgepflicht nach Artikel 328 Obligationenrecht OR 1 . Dieser OR-Artikel regelt die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmenden. Obwohl „unbestrittenermassen auch das berufliche Fortkommen des Arbeitnehmers“ zu den „geschützten Persönlichkeitsrechten“ gehört, fehlt im OR bisher eine ausdrückliche Regelung bezüglich Weiterbildung. Mit dem WeBiG wird dieses Fehlen korrigiert. Mit Artikel 5.2 WeBiG gehört nun die Weiterbildung eindeutig auch zur Fürsorgepflicht des Arbeitgebers. Er hat – wie es das Weiterbildungsgesetz sagt – die Weiterbildung seiner Mitarbeitenden zu „begünstigen“ und damit ihre Arbeitsmarktfähigkeit zu erhalten. Was das für den Arbeitgeber konkret bedeutet, darüber sagt das Weiterbildungsgesetz allerdings nichts aus. Es überlässt es der Selbstverantwortung der einzelnen Betriebe, dies zu definieren. Aus Sicht von Travail.Suisse müssen die privaten und öffentlichen Arbeitgeber:
1. die Mitarbeitenden im Hinblick auf die Weiterbildung positiv beeinflussen und sie darin fördern. Ein betriebliches Weiterbildungsleitbild kann dies zum Ausdruck bringen. Die Personalabteilungen der Unternehmen sind hier gefordert, aktiv zu werden.
2. im Personalreglement oder im Arbeitsvertrag die Bestimmungen in Bezug auf die zur Verfügung gestellte Zeit und die zu übernehmenden Kosten festhalten.
3. die Mitarbeitenden bei der Planung und Umsetzung ihrer Weiterbildungsstrategie unterstützen. Mitarbeitenden zwischen 40 und 45 Jahren müssen die Arbeitgeber die Möglichkeit geben, eine Standortbestimmung vorzunehmen. Sie hilft, die vorhandenen Qualifikationen sichtbar zu machen, aber auch die eingeschlichenen Dequalifizierungen aufzudecken. Arbeitgeber, welche ihre älteren Mitarbeitenden bei der Weiterbildung unterstützen (zeitlich, finanziell, organisatorisch), können damit rechnen, die Motivation und die Qualifikationen der Mitarbeitenden bis zum Pensionierungsalter hoch zu halten.
4. die Weiterbildung in Mitarbeitergesprächen positiv und motivierend ansprechen. Die eigenen Mitarbeitenden sollen auf die für die Person oder den Betrieb wichtigen Angebote hingewiesen und ermuntert, aufgefordert oder gar aufgeboten werden, an den Kursen teilzunehmen.
5. die Kooperation in den Branchen anstreben. Das kann über Gesamtarbeitsverträge mit den Sozialpartnern oder über Berufsbildungsfonds gemäss Artikel 60 Berufsbildungsgesetz BBG geschehen. Branchenlösungen ermöglichen eine Stärkung der Weiterbildung in einer Branche, indem über sie branchenspezifische Ausbildungsstätten aufgebaut, Weiterbildungen angeboten und solidarisch finanziert werden können.
6. Mitarbeitende mit Problemen im Bereich der Grundkompetenzen oder ohne beruflichen Erstabschluss auf Projekte, die zur Behebung dieser fehlenden Qualifikationen lanciert werden, hinweisen, sie zur Teilnahme motivieren und im Rahmen der Möglichkeiten zeitlich, finanziell, organisatorisch unterstützen.
7. Wiedereinsteigerinnen und Wiedereinsteigern welche sich zugunsten der Familie aus dem Arbeitsmarkt zurückgezogen haben, mit spezifischen Weiterbildungsprogrammen zu einem optimalen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt verhelfen.
8. in ihrer betrieblichen Weiterbildungspolitik vorsehen, sich an der Vorfinanzierung der Vorbereitungskurse zu beteiligen. Nach Ablegung der Prüfung wird ihnen der Vorschuss rückvergütet.
Fazit: Das WeBiG appelliert an die Arbeitgeber, dass sie selbstverantwortlich ein günstiges Umfeld für Bildung im Unternehmen schaffen. Es darf deshalb erwartet werden, dass sie in einem betrieblichen Weiterbildungsleitbild ihren Mitarbeitenden aufzeigen, wie sie ihre Selbstverantwortung in Bezug auf die Weiterbildung wahrnehmen. Selbstverantwortung heisst für die Arbeitgeber nicht, nichts zu tun.
Wie stark sich die Arbeitgeber für die Weiterbildung einsetzen, wird sich bei den geringer Qualifizierten ablesen lassen. Dieser Kategorie von Arbeitnehmenden werden am wenigsten Weiterbildungsmassnahmen angeboten. Travail.Suisse wird die Weiterbildungsanstrengungen im Rahmen des «Barometer Gute Arbeit» regelmässig überprüfen.