Die Abschottungsinitiative der SVP gibt eine falsche Antwort auf die bestehenden Herausforderungen der Einwanderung. Denn auch mit Kontingenten gab es grosse Einwanderungsschübe in die Schweiz und zudem entsteht mit der Kontingentierung eine Zweiklassengesellschaft auf dem Arbeitsmarkt, die dem Lohndumping Tür und Tor öffnet. Travail.Suisse, der unabhängige Dachverband der Arbeitnehmenden, sagt deshalb klar Nein zur Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ und verlangt von der Politik echte Lösungen für Probleme auf dem Arbeitsmarkt.
Oft werden die Zersiedelung der Landschaft, die steigenden Mieten und Preise für Wohneigentum, die – zumindest in den Stosszeiten – hohe Auslastung von Strassen und öffentlichen Verkehrsmitteln sowie die unbefriedigende Lohnentwicklung für die Arbeitnehmenden allein auf die hohe Zuwanderung der letzten Jahre zurückgeführt. Das ist zwar erwiesenermassen falsch, haben doch beispielsweise steigende Ansprüche der bereits niedergelassenen Bevölkerung zu steigenden Mieten oder die immer weiteren Wege zwischen Wohnen und Arbeiten zu Staus und vollen Zügen beigetragen. Trotzdem besteht mindestens teilweise ein Zusammenhang zwischen den genannten Entwicklungen und der Einwanderung. Politischer Handlungsbedarf ist auf jeden Fall gegeben. Dabei ist aber wichtig, dass die politischen Antworten auch reale Wirkung entfalten. Bei der Masseneinwanderungsinitiative ist das ganz klar nicht der Fall.
Kontingente sind kein Rezept gegen hohe Einwanderung
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass es auch mit Kontingenten immer wieder zu hoher Einwanderung gekommen ist. Die grösste Einwanderungswelle erlebte die Schweiz in den 1960er Jahren. Auch Anfang 90er Jahre war die Einwanderung trotz Kontingenten ungefähr gleich hoch wie während der Personenfreizügigkeit der letzten Jahre (siehe Grafik im Word-Dokument unter www.travailsuisse.ch/medien/medienservice). Zusätzlich zur Einwanderung waren früher in der Schweiz zehntausende von Saisonniers tätig. Allein 1990 kamen 190‘000 Personen für maximal 9 Monate in die Schweiz, um zu arbeiten.
Diese Fakten zeigen, dass die Einwanderung ganz offensichtlich nichts mit Kontingenten oder Personenfreizügigkeit zu tun hat. Der entscheidende Faktor war seit jeher die wirtschaftliche Entwicklung in der Schweiz. Denn auch mit Kontingenten hat die „Wirtschaft“, resp. die Unternehmen in der Schweiz immer dafür gesorgt, dass so grosse Kontingente bewilligt werden, wie sie gerade nötig waren. Das würde auch mit der Masseneinwanderungsinitiative so bleiben.
Die Schweizer Wirtschaft ist potentiell grösser als der Schweizer Arbeitsmarkt. Wenn wir in der Schweiz gute wirtschaftliche Zeiten erleben und damit auch unseren Wohlstand sichern und ausbauen, dann haben wir schlicht und ergreifend zu wenig Arbeitnehmende in der Schweiz. Nun können wir zwar die negativen Auswirkungen dieser guten Wirtschaftslage beklagen. Aber eine Lösung des „Problems“ über eine tiefgreifende Rezession mit einem rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit, so wie das in den 70er Jahren oder Mitte 90er Jahre der Fall war, ist sicher nicht erstrebenswert.
Rechtlose „Gastarbeiter“ öffnen Lohndumping Tür und Tor
Mit einer Rückkehr zur Kontingentspolitik ist auch eine Zweiteilung des Arbeitsmarktes verbunden. Auf der einen Seite die „Schweizer“ Arbeitnehmenden, die von der Initiative explizit geschützt werden, auf der anderen Seite die Ausländerinnen und Ausländer, die – sogar wenn sie bereits seit Jahrzehnten hier wohnen und arbeiten – zu zweitrangigen Arbeitnehmenden werden.
Mit der Schaffung von „rechtlosen“ Gastarbeitern, die sich nicht wehren können bzw. sich nicht zu wehren getrauen, die ohne ihre Familien in irgendwelchen Baracken leben und unter prekären Bedingungen arbeiten, wird das Risiko von Lohndumping und einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sowie von steigenden Sozialkosten nur grösser. Da zudem mit der Initiative der Wegfall der heutigen Lohnkontrollen verbunden ist, können Missbräuche und Lohndumping auch nicht mehr festgestellt werden. Lohndumping und Missbrauch auf dem Arbeitsmarkt gab es aber auch vor der Personenfreizügigkeit, nur fehlten damals die Instrumente, das auch sichtbar zu machen. Mit der Masseneinwanderungsinitiative will die SVP zu dieser Vogel-Strauss-Politik zurückkehren: „Was ich nicht weiss, macht mir nicht heiss“ ist das Motto.
Ein Drittel der Arbeitsplätze hängen von Handel mit EU ab
Die Personenfreizügigkeit ist – für sich alleine genommen – nichts Wünschenswertes für die Arbeitnehmenden. Für eine Beurteilung der Personenfreizügigkeit war und ist für Travail.Suisse immer der Zusammenhang mit den bilateralen Verträgen und den flankierenden innenpolitischen Massnahmen zentral.
Die bilateralen Verträge bilden heute die Grundlage unseres Verhältnisses zur Europäischen Union. Dass wir geregelte Verhältnisse mit der EU brauchen, kann kaum bestritten werden. Wir sind umgeben von Ländern der EU und die EU ist mit Abstand unserer wichtigster Wirtschaftspartner. Mit einem BIP von 16 Mia. Franken ist die EU wirtschaftlich betrachtet grösser als die USA, doppelt so gross wie China und ungefähr zehnmal so gross wie Indien.
Nach wie vor gehen 60 Prozent unserer Exporte in die Länder der EU. Dabei geht es um 325 Millionen Franken pro Tag. Für die Exportwirtschaft, ihre Zulieferer sowie deren Angestellte und damit auch für viele Binnenbranchen wie den Detailhandel oder den Bau sind die klaren Regeln und die Rechtssicherheit, welche die bilateralen Verträge bieten, sehr wichtig. Insgesamt hängt ungefähr jeder dritte Arbeitsplatz von unserem Handel mit der EU ab.
Die Abschottungsinitiative der SVP ist ein frontaler Angriff auf die Bilateralen und damit auch auf diese geregelten Beziehungen, die viel zum wirtschaftlichen Erfolg der Schweiz und unserem Wohlstand beitragen.
Früchte des Wachstums gerecht verteilen
Anstatt eine veraltete Kontingentslösung mit hohen Risiko für Dumping auf dem Arbeitsmarkt und negativen wirtschaftlichen Auswirkungen durchzusetzen, braucht es gezielte Massnahmen für einen starken Arbeitsmarkt und eine hohe Lebensqualität in der Schweiz. Dazu gehören:
• eine Verstärkung der flankierenden Massnahmen mit Mindestlöhnen in Tieflohnbranchen, damit Lohndumping erfolgreich bekämpft werden kann,
• eine massive Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch die Aufnahme von Betreuungsinfrastruktur in den Service public und eine klare Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Weiterbildung der älteren Arbeitnehmenden sowie
• ein massiver Ausbau von Infrastruktur (Strassen, öffentlicher Verkehr, Schulen, Gesundheitswesen, Betreuung von Kindern und älteren Menschen etc.) und Wohnungen (genügend und bezahlbarer Wohnraum).
Ein Nein zur Masseneinwanderungsinitiative ist also nicht der Abschluss der Diskussion über die Einwanderung und die Personenfreizügigkeit, sondern eine notwendige Voraussetzung für eine Politik, welche die Früchte des Wachstums einer breiteren Bevölkerungsschicht zukommen lässt als bisher und die dringendsten Probleme des Bevölkerungswachstums wirksam anpackt.