Kurz vor den Sommerferien begann die Vernehmlassung zur Gesetzesvorlage, die erwerbstätige betreuende und pflegende Angehörige entlasten soll. Die Vorlage enthält zwar drei Massnahmen. Sie zielt jedoch vor allem auf Notsituationen ab. Die Bedürfnisse der pflegenden Angehörigen sind aber vielfältig, insbesondere in den Betreuungssituationen, in denen hilfsbedürftige Personen regelmässig auf Betreuung und Unterstützung angewiesen sind. Für sie sieht der Gesetzesentwurf leider keine Lösung vor. Travail.Suisse fordert die Regierung auf, nochmals über die Bücher zu gehen und das Massnahmenpaket zu ergänzen.
Wie nach der Ankündigung des Bundesrates im Februar des vergangenen Jahres zu erwarten war, konzentriert sich der Inhalt der Gesetzesvorlage auf die Bedürfnisse der berufstätigen pflegenden Angehörigen, um sie bei der Wahrnehmung ihrer Doppelrolle als Erwerbstätige und Betreuende etwas zu entlasten.
Drei Massnahmen, um Notsituationen besser zu meistern
Die drei Massnahmen, die bis zum 19. Oktober in die Vernehmlassung gegeben wurden, beinhalten: * die gesetzliche Verankerung der Lohnfortzahlung während des bestehenden kurzen Betreuungsurlaubs zugunsten der Eltern von kranken Kindern und die Ausweitung des Urlaubanspruchs auf Angehörige ohne Unterhaltspflichten; * die Einführung eines neuen Langzeiturlaubs für die Betreuung schwer kranker oder verunfallter eigener Kinder (14 Wochen), welcher über die Erwerbsersatzversicherung (EO) bezahlt wird; * die Ausweitung des Anspruchs auf Betreuungsgutschriften für die AHV auf Konkubinatspartner und auf Fälle von leichter Hilflosigkeit.
Die ersten beiden Massnahmen liefern eine Antwort auf Notsituationen von berufstätigen Frauen und Männern, die ihre Betreuungspflichten gegenüber ihren Kindern wahrnehmen müssen, und im weiteren Sinne von allen Erwerbstätigen, die nahestehende Personen betreuen.
Betreuungsurlaub bei akuten Notsituationen für Angehörige im weiteren Sinne
In Bezug auf den kurzen Betreuungsurlaub ist festzustellen, dass das Kriterium der «Unterhaltspflicht» gemäss Artikel 324a des Obligationenrechts künftig nicht mehr ausschlaggebend sein wird: So können im Rahmen des Kurzurlaubs in Notsituationen neben den eigenen Kindern, dem Ehepartner/der Ehepartnerin oder dem eingetragenen Lebenspartner auch nahestehende Personen im weiteren Sinne betreut werden. Es handelt sich dabei um Personen, mit denen die Betreuungsperson de facto in einer festen Partnerschaft lebt, um Eltern, Brüder und Schwestern sowie «nahestehende Personen»: Sie alle können von einer erwerbstätigen Person betreut werden, wobei letztere die Gewissheit hat, dass sie während dieses kurzen Betreuungsurlaubs entschädigt wird.
Selbstverständlich begrüsst Travail.Suisse diese erste Massnahme, bedauert jedoch, dass gleichzeitig ein neues Kriterium eingeführt werden soll – das Kriterium des «Allein-lebens». So kann etwa im Fall der Eltern nicht automatisch vorausgesetzt werden, dass ein Elternteil im Alter in der Lage ist, die Betreuung des Ehepartners/der Ehepartnerin regelmässig zu übernehmen. Jede Situation ist einzigartig, und was für ein Paar möglich erscheint, ist es nicht zwangsläufig auch für ein anderes Paar. Travail.Suisse wünscht zudem, dass dieser Urlaub auch berufstätigen Grosseltern zugutekommt, die ihre Enkelkinder regelmässig betreuen – und dies betrifft viele Personen.
Der neu gestaltete Noturlaub hat den Vorteil, dass er Rechtssicherheit schafft, hat die im Vorfeld bei den Unternehmen durchgeführte Regulierungsfolgenabschätzung doch ergeben, dass ein Drittel der Personen, die den Noturlaub beanspruchen, heute aufgrund der unklaren Rechtslage keine Entschädigung erhalten. Diese Personen werden von der gesetzlichen Verankerung der Lohnfortzahlung im neuen Artikel 329g des Obligationenrechts direkt profitieren.
Neuer Langzeiturlaub: gut, aber zu kurz und zu restriktiv
Die wichtigste neue Massnahme, welche der Bundesrat in seinem Gesetzesentwurf vorschlägt, ist der Langzeiturlaub von 14 Wochen für Eltern, die ein schwer krankes oder verunfalltes Kind pflegen müssen. Die Eltern von jährlich mehreren Tausend hospitalisierten Kindern befinden sich heute in einer prekären Lage. Wenn ihre Anwesenheit zur Betreuung eines gesundheitlich schwer beeinträchtigten Kindes erforderlich ist, führt dies oft dazu, dass ein Elternteil die Erwerbstätigkeit vollständig aufgibt.
Die Vorlage schlägt daher einen neuen bezahlten Urlaub von 14 Wochen (98 Kalendertage) vor, welcher sich am Modell des Mutterschaftsurlaubs orientiert und mit 80 Lohnprozenten entschädigt wird. Im Vergleich zur heutigen Situation ist dies in der Tat eine bedeutende Verbesserung. Wie im erläuternden Bericht betont wird, beträgt die Dauer der Betreuung eines an Krebs erkrankten Kindes aber durchschnittlich 155 Arbeitstage. Berücksichtigt sind dabei weder die Betreuungsleistungen, die ausserhalb der Spitalbesuche erbracht werden, noch die Tatsache, dass eine Krebserkrankung in der Regel nicht innerhalb eines Jahres geheilt werden kann. Insgesamt dauert die Arbeitsabsenz der betroffenen Eltern durchschnittlich 320 Tage. Diese Fälle sind nicht sehr zahlreich (zwischen 1000 und 8000 pro Jahr), doch sie führen zu äusserst schwierigen und belastenden Situationen. Travail.Suisse ist der Ansicht, dass wir uns hier grosszügig zeigen und einen Urlaub von 22 Wochen vorsehen sollten, wenn die Gesellschaft den von solchen dramatischen Situationen betroffenen Familien eine echte Unterstützung anbieten und gleichzeitig verhindern will, dass die Eltern in ihren beruflichen Perspektiven (und später im Ruhestand) benachteiligt werden. Ausserdem muss der Anspruch auf diesen Urlaub auch für Behinderungen gelten.
In diesem Zusammenhang bedauert Travail.Suisse noch eine weitere gravierende Lücke: Dieser neue Langzeiturlaub ist ausschliesslich für die Betreuung kranker Kinder gedacht, nicht aber für andere Angehörige, für deren Betreuung sich eine erwerbstätige Person mehr als drei Tage beurlauben lassen muss – beispielsweise um ihren Lebenspartner oder die eigenen Eltern am Lebensende zu begleiten. Ein solcher Langzeiturlaub könnte kürzer sein, müsste aber auf jeden Fall im Gesetz vorgesehen und bezahlt sein.
Indirekte Anerkennung der pflegenden Angehörigen in der AHV
Die dritte Massnahme ist eine indirekte finanzielle Anerkennung für Töchter und Söhne, die ihre Eltern pflegen, oder für Mitglieder einer eingetragenen Partnerschaft, die ihren Lebenspartner/ihre Lebenspartnerin betreuen. Die Ausweitung der Betreuungsgutschriften in der AHV soll für Fälle von leichter Hilflosigkeit sowie für Konkubinatspartner gelten. Das ist eine sehr gute Nachricht.
Travail.Suisse bedauert jedoch, dass die Frage der «leichten Erreichbarkeit», welche heute in Artikel 29septies AHVG und vor allem in Artikel 52g AHVV geregelt ist, nicht revidiert wurde. Diese beiden Artikel schreiben vor, dass die betreute Person nicht mehr als 30 Kilometer vom pflegenden Angehörigen entfernt wohnen darf beziehungsweise innerhalb einer Stunde erreichbar sein muss.
Die «Fernbetreuung» stellt jedoch eine ebenso reale Belastung dar wie die direkte Care-Arbeit am Wohnort der betreuten Person. Die Familien sind heute vermehrt über grössere Distanzen verstreut; die Eltern wohnen nicht mehr in der Nähe ihrer erwachsenen Kinder. Das Kriterium der Entfernung bzw. der Anfahrtszeit hat im Zeitalter der neuen Kommunikationsformen nicht mehr die gleiche Relevanz wie in früheren Zeiten. Auch aus der Ferne koordinieren und organisieren ist aktive Care-Arbeit.
Innovative Lösungen sind notwendig, um mehr Betreuungssituationen abzudecken
Wie wir bereits am Anfang dieses Jahres festgestellt haben1, ist es natürlich unerlässlich, Not- und Ausnahmesituationen wie schwere Krankheiten, Unfälle und Notfälle gesetzlich zu regeln. Dabei handelt es sich jedoch um Situationen, in denen die Arbeitgeber grösstenteils Verständnis und entsprechendes Entgegenkommen zeigen. Unsere Volksvertreter und unsere Regierung haben aber auch die Aufgabe, innovative Massnahmen für die regelmässige Langzeitbetreuung vorzuschlagen.
In einer nächsten Ausgabe werden wir auf die Gründe für den Handlungsbedarf und auf die Notwendigkeit zurückkommen, eine harmonisierte Politik zu erarbeiten, welche die Thematik der berufstätigen pflegenden Angehörigen möglichst umfassend abdeckt. Travail.Suisse hat eine Reihe von Forderungen zur Gleichstellung2 erarbeitet, die u.a. pflegende Angehörigen betreffen, denn es sich überwiegend Frauen. Einzelne innovative Ideen sind bereits vom Parlament aufgenommen worden, andere sollten in Zukunft Eingang in die politische Agenda finden.
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fn. 1 Valérie Borioli Sandoz , «Es braucht bezahlte Urlaube für die Betreuung von Angehörigen», Medienservice, 6. Februar 2018.
2 Valérie Borioli Sandoz, «Gleichstellung von Frau und Mann heute und morgen. 28 Forderungen für mehr Wahlfreiheit und zur Gewährleistung der Lebensqualität von Arbeitnehmenden», Travail.Suisse, Bern, April 2018.