Am Kongress diskutieren und beschliessen die Delegierten von Travail.Suisse alle vier Jahre, wie sie die Schweiz mitgestalten wollen. Damit bietet der Kongress 2015 Gelegenheit, zu überprüfen, ob sich die Ideen und Forderungen von Travail.Suisse in den letzten vier Jahren durchgesetzt haben. Aus dieser Bilanz ergeben sich auch Herausforderungen für die nächsten vier Jahre.
Am 11. September 2011 haben die Delegierten von Travail.Suisse zuerst die „Zehn Thesen zur Demografie“ diskutiert und beschlossen und danach unter dem Motto „Mehr gute Arbeit!“ die Positionen und Forderungen für die Jahre 2012 bis 2015 verabschiedet.
Die „Zehn Thesen zur Demografie“ haben sicher nichts an Aktualität eingebüsst. Im Gegenteil, unsere Fokussierung auf die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt setzte sich in der politischen und wirtschaftlichen Diskussion breit durch. Die Zahl der 400‘000 fehlenden Arbeitskräfte, die wir mit einer Studie ermittelt und zusammen mit den Thesen publiziert haben, wird heute auch vom Arbeitgeberpräsidenten oder vom Bundesrat zitiert, vermutlich ohne die Herkunft zu kennen. Der kommende Fachkräftemangel ist zum öffentlich diskutierten Phänomen geworden, mit der Fachkräfteinitiative hat das Thema auch die politische Agenda erreicht. Die konkreten Ergebnisse sind zwar noch nicht berauschend, aber die politischen Mühlen laufen und das Thema, das Travail.Suisse am letzten Kongress gesetzt hat, wird nicht so rasch verschwinden.
Auch bei den Forderungen aus dem Kongressdokument „Mehr gute Arbeit!“ können wir feststellen, dass sich die Dinge doch bei etlichen Themen in unserem Sinn entwickelt haben. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, wo weiterhin zum Teil dringender Handlungsbedarf besteht.
Übermässige Arbeitsbelastung wurde zum Thema
Im Bereich der Arbeitsmarktpolitik gelang es, mit der Abstimmungskampagne zur unserer Initiative „6 Wochen Ferien für alle“ eine breite Diskussion zu den hohen menschlichen und gesellschaftlichen Kosten der übermässigen Arbeitsbelastung zu lancieren. Auch wenn die Initiative abgelehnt worden ist, ist das Thema keineswegs vom Tisch und wird bei politischen Vorlagen zur Arbeitszeiterfassung, zum Gesundheitsschutz oder zur Nacht- und Sonntagsarbeit weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Mit der Einführung der Solidarhaftung, den Massnahmen gegen die Scheinselbständigen sowie dem allgemeinverbindlich erklärten GAV im Personalverleih konnte der Schutz der Löhne und Arbeitsbedingungen erhöht werden. Leider wurden im Hinblick auf die Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative keine weiteren Fortschritte erzielt, mit dem bekannten katastrophalen Ergebnis. Vor einer weiteren Abstimmung über den bilateralen Weg sind also neue Verbesserungen zwingend. Im Vordergrund steht dabei eine massive Vereinfachung für die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen. Im Weiteren ist die Einsicht, dass zu älteren Arbeitnehmenden Sorge getragen werden muss, jetzt auch in der Politik angekommen. An der ersten Nationalen Konferenz zum Thema der älteren Arbeitnehmenden im Frühling 2015 konnte mit dem Verzicht auf Altersangaben in Stelleninseraten ein erster Erfolg erzielt werden. Der Handlungsbedarf ist aber weiterhin gross. Falls die Unternehmen nicht innert nützlicher Frist ihre Anstellungspolitik überdenken und keine gezielte Bildungspolitik für ältere Arbeitnehmende entwickelt und umgesetzt wird, wird gerade die grösste Wählergruppe immer häufiger nationalistischen und rechtspopulistischen Forderungen zustimmen.
In der Familienpolitik haben wir der Forderung nach einem Vaterschaftsurlaub neue Dynamik verliehen. Nachdem in den letzten Jahren etliche Vorstösse im Parlament gescheitert sind, hat jetzt erstmals ein Vorstoss die Zustimmung der zuständigen Kommission gefunden. Travail.Suisse wird auch in den nächsten Jahren alles unternehmen, damit dieser Durchbruch wie beim bereits angenommenen Adoptionsurlaub zum Ziel führt. Mit einer Studie zu den Schwierigkeiten des Wiedereinstiegs ins Berufsleben nach einer längeren Familienphase hat Travail.Suisse eine ganze Reihe von politischen Vorstössen ausgelöst. Mit der Zustimmung der Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) des Nationalrates zu einem besseren Zugang zu Bildungsmassnahmen der Arbeitslosenversicherung für Wiedereinsteigerinnen konnte bereits ein erster konkreter Erfolg erzielt werden, weitere müssen folgen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Kinderbetreuung wird seit vielen Jahren breit diskutiert. Mit der steigenden Erwerbstätigkeit der Frauen rückt jedoch auch die Vereinbarkeit zwischen Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege zunehmend in den Fokus. Berufstätige Frauen können nicht mehr, wie das bisher oft der Fall war, ohne weiteres die Betreuung oder Pflege ihrer Partner oder ihrer Eltern und Schwiegereltern übernehmen. Der Handlungsbedarf ist anerkannt, jetzt braucht es auch konkrete Massnahmen wie ein Urlaub für pflegende Angehörige und ein Rahmengesetz für die Betreuungsinfrastruktur als Service public.
Weiterbildung wird auch für tiefer Qualifizierte zugänglich
In der Bildungspolitik konnten Erfolge bei der Stärkung der Berufsbildung und der Weiterbildung erzielt werden. So hat die von uns geforderte neue Finanzierung der Höheren Berufsbildung Eingang gefunden in die BFI-Botschaft und die Förderung von Berufsabschlüssen für Erwachsene wurde am Spitzentreffen Berufsbildung 2014 von allen Sozialpartnern zum Handlungsschwerpunkt erklärt. Indem die Förderung von Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben etc. im neuen Weiterbildungsgesetz verankert werden konnte, ist sichergestellt, dass zukünftig vermehrt auch Arbeitnehmende von Weiterbildung profitieren können, die über keinen oder nur einen kleinen Bildungsrucksack verfügen. In all diesen Bereichen muss jetzt noch sichergestellt werden, dass das Parlament auch die nötigen Mittel bereitstellt, um konkrete Erfolge zu erzielen. Denn Geld ist nicht alles, aber ohne Geld läuft auch in der Bildung nichts. Zudem wird sich Travail.Suisse für eine gezielte Bildungspolitik für ältere Arbeitnehmende engagieren und dafür einsetzen, dass die im Weiterbildungsgesetz vorgesehene Begünstigung der Weiterbildung durch die Arbeitgeber konkretisiert wird.
In der Sozialpolitik konnten bei der IV massive Verschlechterungen auf dem Buckel der Betroffenen verhindert werden und bei der Revision des UVG ist der moderate und auch die Interessen der Suva berücksichtigende Vorschlag der Sozialpartner im Parlament gut unterwegs. In der Altersvorsorge 2020 hat der Bundesrat Forderungen von Travail.Suisse aufgenommen. So zum Beispiel in der beruflichen Vorsorge den Schutz der Arbeitnehmenden vor der Abzockerei der Lebensversicherer oder die Gleichstellung der Teilzeitarbeit. Gleichzeitig weist die Vorlage aber auch noch grossen Verbesserungsbedarf auf. So ist die Möglichkeit der flexiblen Pensionierung für Arbeitnehmende mit tiefen Einkommen zu verbessern und auch die Finanzierung muss ganz klar auf eine solidere Basis gestellt werden. Im Weiteren sind bei der Arbeitslosenversicherung die Fehler der letzten Revision zu korrigieren: Insbesondere der Zugang zu Arbeitslosenentschädigungen für junge Arbeitslose, Wiedereinsteigerinnen und Wiedereinsteiger und für ältere Arbeitslose ist zu verbessern.
In der Finanzpolitik konnten auf Bundesebene neue Sparpakete und eine bereits vom Ansatz her sinnlose Aufgabenüberprüfung vorerst abgewehrt und beim Service public langfristig schädliche Liberalisierungen und Privatisierungen bei Post, Swisscom, SBB oder auch im Bildungsbereich verhindert werden. Mit der Unternehmenssteuerreform III steht die grosse „Schlacht“ indes erst bevor. In der jetzigen Ausgestaltung dieser Reform drohen Milliardenausfälle für den Bund und die Kantone. Ein massiver Abbau von kantonalen Leistungen wie Krankenkassenprämienverbilligungen, öffentlichem Verkehr oder Bildungsangeboten wäre unabwendbar und würde vor allem Familien und Arbeitnehmende mit tieferen und mittleren Einkommen hart treffen. Travail.Suisse wird alles unternehmen, um diesen Kahlschlag abzuwehren.
In der Energie- und Klimapolitik ist sicher der Gegenvorschlag zur Cleantech-Initiative, die Travail.Suisse im Initiativkomitee mitgetragen hat, ein grosser Erfolg. Der Gegenvorschlag ermöglicht die Umsetzung von tausenden von Projekten im Bereich der erneuerbaren Energien, Dadurch können in der Schweiz zehntausende von guten, interessanten und sicheren Arbeitsplätzen auf verschiedenen Bildungsniveaus und in unterschiedlichen Branchen gesichert oder geschaffen werden. Nun geht es darum, mit der Umsetzung der Energiestrategie 2050 und einer ausgewogenen ökologischen Steuerreform die Energiewende zu schaffen.
Der grösste Rückschlag der letzten vier Jahre ist in der Europapolitik zu verzeichnen. Anstatt über zukunftsfähige Regelungen der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU zu debattieren, ist nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative sogar der bisherige bilaterale Weg akut gefährdet. Für Travail.Suisse ist klar, dass die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative nicht zu einer Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt in Form eines neuen Saisonnierstatut führen darf. Vielmehr muss mit einem ausgebauten Schutz von Löhnen und Arbeitsplätzen in der Schweiz das Vertrauen der Bevölkerung in den bilateralen Weg zurückgewonnen werden. Denn zum Erhalt von Wohlstand und Lebensqualität in der Schweiz sind gute und geregelte Beziehungen zu unseren Nachbarn und zur EU unabdingbar.
Fazit: Travail.Suisse entfaltet Wirkung, Engagement bleibt nötig
Diese kurze und keinesfalls abschliessende Bilanz zeigt, dass wir mit unserem Engagement die Schweiz in unserem Sinn mitgestalten können. Selbstverständlich sind diese Erfolge nicht allein der Arbeit von Travail.Suisse zu verdanken. Entscheidungen des Parlaments oder der Bevölkerung gehen immer auf das Zusammenwirken von vielen Akteuren zurück. Aber in vielen Themen haben wir entscheidende Ideen geliefert und wichtige Beiträge geleistet, um Veränderungen zugunsten der Arbeitnehmenden herbeizuführen. Genau das will Travail.Suisse auch in den nächsten Jahren tun und genau zu diesem Zweck werden die Delegierten am Kongress unter dem Motto „Arbeit mit Zukunft!“ die Positionen und Forderungen 2016-2020 diskutieren und verabschieden. Denn es bleibt viel zu tun, unser gemeinsames Engagement für eine Arbeitswelt, die allen Arbeitnehmenden eine Zukunft bietet, ist so wichtig und nötig wie eh und je.