Die vollständige Strommarktöffnung verschärft den Wettbewerb in der Strombranche, was die Versorgungssicherheit gefährden und zu einer Verschlechterung der Lohn- und Arbeitsbedingungen führen kann. Leider ist nichts zur Abfederung dieser negativen Auswirkungen vorgesehen. Deshalb ist eine vollständige Strommarktöffnung nur mit der Einführung eines Gesamtarbeitsvertrages (GAV) für die Strombranche und flankierenden Massnahmen für die Arbeitskräfte der Branche denkbar.
In der Stromwirtschaft sind Umstrukturierungen an der Tagesordnung. Die grossen Stromkonzerne haben es nicht verstanden, der durch die erneuerbaren Energien herbeigeführten Wende vorzugreifen. Sie müssen ihr Marketingmodell überdenken und den Dienstleistungen unter schwierigen Rahmenbedingungen mehr Gewicht verleihen. Die Strompreise sind nämlich aufgrund eines gemessen an der Nachfrage zu hohen Angebots auf dem europäischen Markt sehr tief. Im Bereich der Wasserkraft werden Investitionsprojekte wegen ungenügender Rentabilität aufgegeben. Ein Wiederanstieg der Preise wird frühestens in einigen Jahren erwartet.
Zusätzlich kommen mit der Energiestrategie 2050 neue, aus ökologischer Sicht gerechtfertigte Anforderungen, welche die Stromversorgungsunternehmen mittels Bonus-Malus-System dazu verpflichten, den Stromverbrauch ihrer Kundschaft zu verringern. Aus wirtschaftlicher Sicht bedeutet das aber Kosten für die Unternehmen, die weniger Strom verkaufen werden. Deshalb verringert sich der Investitionsspielraum und es besteht die Gefahr, dass die Verschlechterung der finanziellen Lage mittels Lohnkürzungen und Stellenabbau auf die Mitarbeitenden überwälzt wird.
Auf jeden Fall haben die zunehmende Bedeutung der erneuerbaren Energien und die folglich erforderliche Anpassung der Verteilnetze bedeutende Auswirkungen auf die Aus- und Weiterbildung. Die Unternehmen müssen ihre Energieberatungstätigkeit stark ausbauen, wodurch bei den Arbeitskräften in der Branche ein grosser Schulungsbedarf entsteht.
Schwierige konjunkturelle und strukturelle Rahmenbedingungen für die Stromwirtschaft
Unter diesen für die Strombranche bereits schwierigen konjunkturellen und strukturellen Rahmenbedingungen zieht eine vollständige Strommarktöffnung eine weitere Verschlechterung der Lage nach sich. Daraus entsteht ein verschärfter Wettbewerb, der an den Margen der Stromversorgungsunternehmen nagt. Denn um auf einem vollständig liberalisierten Markt seine Kundschaft zu halten oder den Verlust von Kunden wieder auszugleichen, muss mit bedeutenden Marketingkosten gerechnet werden. Hinzu kommen zusätzliche administrative Kosten zur Verwaltung der Zu- und Abgänge bei der Kundschaft. Bei kleinen Stromversorgungsunternehmen besteht auch die Gefahr, dass sie den Verlust eines wichtigen Kunden nicht mehr ausgleichen können, was ihre Existenz bedroht.
Ganz allgemein ist zu bedenken, dass Strom ein öffentliches Gut wie Wasser oder etwa die öffentliche Infrastruktur ist. Die Stromversorgung und deren Sicherheit spielen somit eine strategische Rolle und folgt der Logik des Service public. Etwa 80 Prozent der Stromproduktions- und Stromverteilungsunternehmen sind in öffentlicher Hand. Der teilweise geöffnete und regulierte Markt funktioniert gut und die Versorgungssicherheit ist gewährleistet. Die vollständige Strommarktöffnung stellt die Logik des Service public in Frage und verleiht der kurzfristigen Rentabilität mehr Gewicht, was zu Lasten der erforderlichen Investitionen und der Sicherheit geht.
Wenig überzeugende Vorteile der vollständigen Marktöffnung
Die Vorlage in Vernehmlassung verschweigt die Risiken der Öffnung und nimmt keine potenzielle Analyse der vollständigen Strommarktöffnung vor. Sie streicht lediglich die erwarteten Vorteile der Strommarktöffnung heraus, nämlich ein möglicher Abschluss eines Stromabkommens mit der EU sowie mutmasslich höhere Transparenz und Effizienz durch die Möglichkeit des Anbieterwechsels. Der Bericht vermag jedoch keinen Beweis für diese Vorteile zu erbringen. Sie reichen somit bei Weitem nicht aus, um die Risiken wettzumachen, welche die vollständige Marktliberalisierung für die Versorgungssicherheit im Ganzen und die Lohn- und Arbeitsbedingungen der Branche birgt.
Es gibt also fundierte Gründe für ein Nein zur vollständigen Marktöffnung. Man muss jedoch auch anerkennen, dass die strukturellen Veränderungen, mit denen die Strombranche konfrontiert ist, unabhängig von der Marktöffnung bereits laufen – insbesondere mit der Entwicklung einer dezentralisierten, auf erneuerbaren Energien beruhenden Versorgung. Es ist auch richtig, daran zu denken, dass mittelfristig ein Stromabkommen mit der EU notwendig ist, wenn die Schweiz ihre Rolle als Drehscheibe im Stromhandel mit der EU behalten und die Diskriminierung von Schweizer Firmen beim Zugang zum europäischen Markt vermeiden will. Es besteht auch ein enormer Bedarf an Investitionen in die europäische Strominfrastruktur, und wenn es unserem Land nicht gelingt, seine Integration in den sich einenden grossen Strommarkt Europas befriedigend zu vollziehen, könnte der Ausbau der grossen Stromnetze die Schweiz umgehen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Schweiz ohne vollständige Marktöffnung kein befriedigendes Stromabkommen mit der EU abschliessen kann.
Statt also einfach Nein zur vollständigen Marktöffnung zu sagen, ist es vorzuziehen, Bedingungen zur besseren Regulierung und Flankierung des Öffnungsprozesses zu stellen. Die Haltung von Travail.Suisse hängt letztlich davon ab, ob die gestellten Bedingungen berücksichtigt werden oder nicht. Die wichtigsten sind:
• Ein für die gesamte Stromwirtschaftsbranche allgemeinverbindlich erklärter Gesamtarbeitsvertrag (GAV) wird bei einer vollständigen Marktöffnung unabdingbar. Es geht um die Wahrung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie um eine partizipative Planung der Umstrukturierungen, da der verschärfte Wettbewerb, der aus der vollständigen Marktliberalisierung entsteht, an den Margen der Stromunternehmen nagt. Im Stromversorgungsgesetz (StromVG) muss der Grundsatz eines GAV verankert sein, wodurch die Sozialpartner eine solide Grundlage für die Aushandlung des Inhalts des GAV erhalten.
• Die vollständige Strommarktöffnung beschleunigt die strukturellen Veränderungen in der Strombranche, was Folgen für die Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmenden in der Branche hat. Kompetenzbereiche oder sogar Berufe verschwinden, und neue Kompetenzbereiche oder Berufe entstehen, insbesondere in Zusammenhang mit der Entwicklung Richtung Dienstleistungen. Das StromVG muss daher einen Artikel zur Förderung von Aus- und Weiterbildung sowie Umschulungsmöglichkeiten für die Arbeitskräfte in der Strombranche enthalten. Die Branche sollte einen Bildungsfonds äufnen, was in einem GAV geregelt werden könnte. Der Fonds würde von den Sozialpartnern paritär verwaltet werden.
• Es ist schwierig vorherzusagen, wie sich die vollständige Marktöffnung auf den Strompreis für Kleinverbraucher auswirkt. Die Vorlage in ihrer aktuellen Fassung ist unbefriedigend, denn sie schützt zwar Kleinverbraucher, die nicht auf den freien Markt gehen wollen, vor überhöhten Preisen, aber im Gesetz wird nicht präzisiert, was ein überhöhter Preis genau ist. Diesbezüglich ist für Transparenz zu sorgen. Man muss also den Strompreis kennen, den das Versorgungsunternehmen den Kundinnen und Kunden auf dem freien Markt verrechnet, und einen maximal zulässigen Unterschied zwischen dem Marktpreis und dem Preis für Kleinverbraucher, welche die Sicherheit bevorzugen, festlegen. Man darf nicht vergessen, dass der Preis für ein öffentliches Gut wie Strom für Kleinverbraucher oder Kleinunternehmen, welche die Versorgungssicherheit bevorzugen, erschwinglich und fair bleiben muss.