Zwischen dem 9. Februar und dem 30. November hat die Umsetzungshysterie zur Masseneinwanderungsinitiative alles überdeckt. Jetzt ist es an der Zeit, einen offeneren Blick in die Zukunft zu werfen. Dabei wird rasch klar, dass ein wirksamer Lohnschutz, eine Stärkung der Arbeitnehmenden in der Schweiz, hohe Investitionen in Infrastruktur und Wohnungsangebot sowie die Abkehr von der heute grassierenden Steuersenkungspolitik notwendig sind, um die Schweiz als prosperierendes Land mit hoher Lebensqualität zu sichern. Denn die nächste Abstimmung über die bilateralen Verträge folgt bestimmt.
Von Martin Flügel, Präsident Travail.Suisse
Bei einem nüchternen Blick auf die beiden migrationspolitischen Abstimmungen des Jahres 2014 lässt sich folgendes festhalten: Die Stimmbevölkerung hat am 9. Februar knapp Ja gesagt zu einer eigenständigen Steuerung der Einwanderung unter Berücksichtigung der gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz und am 30. November deutlich Nein zu einer strikten Begrenzung der Zuwanderung auf einer starr vorgegebenen Grösse. Die Interpretation dieser beiden Ergebnisse lässt zwar Spielraum offen. Es gibt jedoch einige Punkte, die klar sind.
Bevölkerung will Bilaterale nicht einfach versenken
Auch bei einer zurückhaltenden Interpretation der Abstimmung vom 30. November kann sicher gesagt werden, dass die Schweizer Bevölkerung die bilateralen Verträge nicht ohne weiteres versenken will. Denn wäre dies der Fall gewesen, so hätte gerade diese Abstimmung die Gelegenheit dazu geboten. Aus den beiden Abstimmungen eine klare Haltung zu den bilateralen Verträgen abzulesen, ist hingegen zu viel verlangt. Hier wird erst die Zukunft Klarheit schaffen. Für Travail.Suisse ist klar, dass der Erhalt der bilateralen Verträge Bestandteil der gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz sind, die gerade gemäss dem neuen Artikel 121a der Bundesverfassung berücksichtigt werden sollen. Geregelte Beziehungen zu unseren Nachbarstaaten und unserem bei weitem grössten Handelspartner sind für ein kleines Land und eine stark exportorientierte Wirtschaft existenziell.
Wirtschaft muss Vertrauen schaffen – mit stärkerem statt schwächerem Lohnschutz
Im Nachgang zum 9. Februar und im Vorfeld vom 30. November war auch von Seiten economiesuisse oder Arbeitgeberverband oft die Rede davon, dass die Wirtschaft wieder das Vertrauen der Bevölkerung gewinnen muss. Mit schönen Reden ist dies aber nicht getan. Nötig dazu sind konkrete Verbesserungen vor allem auf dem Gebiet, für das die Wirtschaft auch zuständig ist, also dem Arbeitsmarkt. Nichtdiskriminierung und Lohnschutz sind die richtigen und wichtigen Stichworte.
Travail.Suisse ist umso erstaunter über die ablehnende Haltung des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes gegenüber den bescheidenen Massnahmen, die der Bundesrat beispielsweise gegen die Lohnungleichheit von Mann und Frau oder für eine leichte Stärkung der flankierenden Massnahmen vorgeschlagen hat. Mit dieser sturen Haltung gegen die Arbeitnehmenden, wie sie bereits vor der Abstimmung vom 9. Februar feststellbar war, wird der Arbeitgeberverband auch die nächste Abstimmung über die bilateralen Verträge an die Wand fahren.
Arbeitnehmende in der Schweiz stärken
Ein wichtiger Wunsch der Stimmbevölkerung ist es, die Arbeitnehmenden in der Schweiz zu stärken. Das Potential ist gross. Nach wie vor gibt es rund 150‘000 Arbeitslose, viele teilzeitarbeitende Mütter (und wenige Väter), die gerne etwas mehr arbeiten würden und viel zu viele ältere Arbeitnehmende, die grosse Mühe auf dem Arbeitsmarkt haben oder gar aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Sie alle könnten dazu beitragen, den Bedarf an ausländischen Arbeitnehmenden zu reduzieren und damit die Zuwanderung zu senken.
Damit das möglich ist, braucht es aber wesentlich mehr Investitionen in die Arbeitnehmenden in der Schweiz, und zwar vor allem in den Bereichen Bildung, Vereinbarkeit und Erholung.
• Bildung: Die Nachholbildung für Erwachsenen muss massiv forciert werden. Es gibt in der Schweiz zwischen 50‘000 und 100‘000 Arbeitnehmende, die mit wenig Unterstützung einen Berufsabschluss erwerben könnten und damit den Fachkräftemangel reduzieren würden. Zudem braucht es eine vom Arbeitgeber geförderte Weiterbildungspolitik oder gar ein vom Arbeitgeber umzusetzendes Weiterbildungsobligatorium, damit auch ältere Arbeitnehmende mehr Chancen haben auf dem Arbeitsmarkt.
• Vereinbarkeit: Die beste Wirkung für eine bessere Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Beruf haben planbare und familienfreundliche Arbeitszeiten und Einsatzpläne. Zudem braucht es ein Recht auf Teilzeitarbeit sowie einen obligatorischen Beitrag der Arbeitgeber an die Krippenkosten.
• Belastung und Erholung: Der Stress am Arbeitsplatz muss durch mehr Personal bzw. mehr fest angestelltes Personal mit höheren Pensen reduziert werden. Zudem sind die Überstunden zu reduzieren und eine volle Kompensation der Überstunden muss ermöglich werden. Im Weiteren ist durch ein „Recht auf Unerreichbarkeit“ (wie es beispielsweise BMW vormacht) die Qualität der Erholung in Freizeit und Ferien zu erhöhen.
Bevölkerungswachstum bewältigen – Abkehr von der Steuersenkungspolitik
Nicht zuletzt muss auch ausserhalb des Arbeitsmarktes gehandelt werden. Mit der Ablehnung der Ecopop-Initiative steht fest, dass die Wohnbevölkerung der Schweiz weiterhin relativ stark wachsen wird. Denn auch wenn dank einer Stärkung der Arbeitnehmenden in der Schweiz anstatt wie heute 80‘000 bis 90‘000 Personen nur 60‘000 bis 70‘000 Personen sind, die sich jährlich neu dauerhaft in der Schweiz niederlassen, so ist das doch ein spürbares Wachstum der Bevölkerung.
Damit sich dieses Bevölkerungswachstum nicht negativ auf die Lebensqualität in der Schweiz auswirkt, muss die Politik heute die Voraussetzungen für die 9-Millionen-Schweiz von morgen schaffen. Dazu sind umfassende Massnahmen bei der Infrastruktur (Strassen, öffentlicher Verkehr, Schulen, Gesundheitswesen, Betreuung von Kindern und älteren Menschen etc.) und im Wohnungsbereich (genügend bezahlbarer Wohnraum) nötig. Die Investitionskosten dafür bewegen sich im Umfang von mehreren Dutzend Milliarden Franken. Dazu kommen steigende laufende Kosten der öffentlichen Hand für Unterhalt und Service public.
Wer sich zum Erhalt von Wohlstand und Lebensqualität in einer wachsenden Schweiz bekennt, der muss auch bereit sein, die nötige Mittel für diese grossen Investitionen und deren Folgekosten bereit zu stellen. Dringend notwendig ist also eine Abkehr von der bisherigen Steuersenkungspolitik. Denn jede Steuersenkung steht direkt im Widerspruch zur Weiterführung der bilateralen Verträge und damit auch zu einer prosperierenden Schweiz. Konkret heisst das, dass die Unternehmenssteuerreform III nur einnahmenneutral ausgestaltet werden darf und jeder Steuerausfall mit zusätzlichen Steuereinnahmen zu kompensieren ist.
Früchte des Wachstums gerecht verteilen
Nach der Abstimmung über Ecopop ist vor der Abstimmung über die bilateralen Verträge. Egal ob diese Abstimmung aufgrund einer – wenig sinnvollen – Initiative zur Streichung von Art. 121a BV, im Hinblick auf eine Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien oder aufgrund eines Referendums gegen die Umsetzung von Art. 121a BV erfolgt, sie wird in den nächsten Jahren stattfinden.
Nur mit einer Politik, welche die Früchte des Wachstums einer breiteren Bevölkerungsschicht zukommen lässt als bisher und die die dringendsten Probleme des Bevölkerungswachstums mit konkreten Massnahmen wirksam anpackt, wird es möglich sein, für dieses „Mutter aller Abstimmungen“ die Zustimmung der Bevölkerung zu den bilateralen Verträge zu gewinnen.