Die Frage, ob der Bundesrat in den nächsten Tagen die Ventilklausel anrufen soll oder nicht, beruht auf einem grundsätzlichen Missverständnis. Die Ventilklausel wurde in den Vertrag eingebaut, um bei hoher und vor allem laufend steigender Zuwanderung reagieren zu können. Nun ist zwar die Zuwanderung relativ hoch – d.h. gleich hoch wie Anfang der 90er Jahre –, sie steigt aber nicht. Für diesen Fall braucht es nicht die Ventilklausel, sondern eine Ausrichtung der Politik auf eine wachsende Bevölkerung.
Mit dem Ja zu den bilateralen Abkommen im Juni 2000 hat die Bevölkerung einer Einführung der Personenfreizügigkeit in mehreren Schritten zugestimmt. Dabei wurden jeweils die bisherigen Kontrollmechanismen durch neue ersetzt. So wurden 2004 der Inländervorrang und die Kontrolle von Lohn und Arbeitsbedingungen bei neu einreisenden Arbeitnehmenden aus dem Ausland aufgehoben, dafür aber die flankierenden Massnahmen mit den Lohnkontrollen für alle Arbeitnehmenden und bei allen Unternehmen eingeführt. Im Jahr 2007 sind dann die Kontingente aufgehoben und durch die Einführung der Ventilklausel ersetzt worden.
Ventilklausel ist ausgerichtet auf Zeit nach Wegfall der Kontingente
Das Instrument der Ventilklausel ist denn auch eindeutig auf die Anfangszeit nach dem Wegfall der Kontingente ausgerichtet. Die damalige Befürchtung war ja, dass die Schweiz nach der Aufhebung der Kontingente von ausländischen Arbeitnehmenden „überschwemmt“ würde. So ist es auch folgerichtig, dass die Ventilklausel nur bei einer starken und vor allem auch von Jahr zu Jahr stark steigenden Zuwanderung ihre Wirkung entfaltet. Das ist daraus ersichtlich, dass mit der Ventilklausel nicht etwa Kontingente festgelegt werden können, die tiefer liegen als die Zuwanderung des vorangehenden Jahres, sondern nur ein Kontingent, das 5 Prozent höher liegt als der Durchschnitt der letzten drei Jahre. Eine reale Wirkung entfaltet die Klausel also nur, wenn die Zuwanderung von Jahr zu Jahr um mehr als 5 Prozent steigt.
Zuwanderung nimmt seit 2008 ab – Niveau wie mit Kontingenten
Nun ist die Zuwanderung zumindest statistisch in den beiden Jahren nach der Aufhebung der Kontingente (2007 und 2008) wirklich stark gestiegen. Und zwar von 49’000 im Jahr 2006 auf 83’000 im Jahr 2007 und 103’000 im Jahr 2008. Dabei ist aber zu berücksichtigen, dass ein grosser Teil dieser vermeintlichen Zuwanderer bereits in der Schweiz arbeitete und wohnte und nur eine einjährige Bewilligung gegen eine mehrjährige Bewilligung ausgetauscht hat. Und seit 2008 kommt dazu, dass die Zuwanderung wieder sinkt und mit 57’000 Personen im Jahr 2011 und noch etwas weniger im Jahr 2012 bereits wieder das Niveau erreicht hat, das bereits mit den Kontingenten Anfang der 90er Jahre oder von 2001 bis 2006 erreicht wurde. In dieser Situation ist die Ventilklausel wirkungslos.
Politik muss Hausaufgaben machen
Wir befinden uns also nicht in der „Notfall-Situation“, die vor der Abschaffung der Kontingente befürchtet und für die die Ventilklausel konstruiert wurde. Deshalb ist die Anwendung der Ventilklausel auch nicht der richtige Weg zum Ziel.
Die Zuwanderung beruht offensichtlich nicht auf der Personenfreizügigkeit, sondern auf der guten wirtschaftlichen Verfassung der Schweiz. Nun können wir zwar verschiedene negative Auswirkungen dieser guten Wirtschaftslage beklagen. Aber eine Lösung des „Problems“ über eine tiefgreifende Rezession mit einem rasanten Anstieg der Arbeitslosigkeit, so wie das in den 70er Jahren oder Mitte der 90er Jahre der Fall war, ist sicher nicht erstrebenswert.
Notwendig ist vielmehr eine Politik, die auf eine wachsende Bevölkerung ausgerichtet ist und die es versteht, die negativen Auswirkungen der Zuwanderung für die Arbeitnehmenden in der Schweiz zu verhindern. Hier sieht Travail.Suisse vor allem folgenden Handlungsbedarf:
- Mindestlöhne in Tieflohnbranchen: In der Schweiz braucht es in Tieflohnbranchen flächendeckend branchenspezifische oder regionale Mindestlöhne, um wirkungsvoll gegen Lohndumping vorgehen zu können. Die heutigen flankierenden Massnahmen kranken daran, dass Missbräuche immer erst zugelassen werden müssen und erst noch schwierig zu definieren sind. Regionale und branchenspezifische Mindestlöhne schaffen deshalb erst die Voraussetzung, um die erleichterte Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Gesamtarbeitsverträgen und den Erlass von Normalarbeitsverträgen durch Bund und Kantone in allen Tieflohnbranchen auch präventiv zu ermöglichen.
- Beschäftigung von inländischen Erwerbspersonen fördern: Ein Teil der Zuwanderung ist auch darauf zurück zu führen, dass die bereits in der Schweiz anwesenden Arbeitnehmenden zu wenig gefördert werden. Um dies zu ändern, braucht es erstens eine Offensive in der Nachholbildung für wenig qualifizierte Arbeitnehmende, zweitens eine massive Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch die Aufnahme der Betreuungsinfrastruktur in den Service public und drittens eine klare Verbesserung der Arbeitsbedingungen und der Weiterbildungschancen der älteren Arbeitnehmenden. Zudem brauchen auch Unternehmen Anreize, um Erwerbspersonen aus dem inländischen Arbeitskräftepool zu beschäftigen, anstatt neue Arbeitskräfte aus dem Ausland zu rekrutieren.
- Investitionen in Infrastruktur und Abkehr von Tiefsteuerpolitik: Damit sich eine weitere Zuwanderung nicht negativ auf die Lebensqualität in der Schweiz auswirkt, muss die Politik heute die Voraussetzungen für die 9-Millionen-Schweiz von morgen schaffen. Dazu sind Massnahmen im Infrastrukturbereich (Strassen, öffentlicher Verkehr, Schulen, Gesundheitswesen, Betreuung von Kindern und älteren Menschen etc.) und Wohnungsbereich (genügend und bezahlbarer Wohnraum) nötig. Die Investitionskosten dafür bewegen sich im Umfang von mehreren Dutzend Milliarden Franken und werden auch zu steigenden laufenden Kosten der öffentlichen Hand führen. Wer sich zum Erhalt von Wohlstand und Lebensqualität in der Schweiz und damit zu Wachstum und Zuwanderung bekennt, muss auch bereit sein, die nötigen Mittel für diese grossen Investitionen bereit zu stellen. Notwendig ist also eine Abkehr von der bisherigen Tiefsteuerpolitik. Steuersenkungen stehen im Widerspruch zur Weiterführung der bilateralen Verträge und gefährden den Wohlstand in der Schweiz. Eine einnahmenneutrale Unternehmenssteuerreform III bzw. eine sofortige Korrektur der Unternehmenssteuerreform II sind also eine wirtschaftliche Notwendigkeit für die Schweiz.
Früchte gerecht verteilen
Es ist davon auszugehen, dass die Bevölkerung im Rahmen der Erweiterung des Freizügigkeitsabkommens auf Kroatien und danach auch bei der Abstimmung über die Initiative zur Masseneinwanderung schon bald wieder über die Personenfreizügigkeit abstimmen wird. Bei der aktuellen Stimmungslage der Stimmbevölkerung ist der Ausgang dieses Urnenganges mehr als unsicher. Daran ändert sich auch nichts, wenn jetzt mit der Ventilklausel Symbolpolitik betrieben wird.
Nur mit einem Übergang zu einer Politik, die die Früchte des Wachstums einer breiteren Bevölkerungsschicht zukommen lässt als bisher und die die dringendsten Probleme des Bevölkerungswachstums wirksam anpackt, kann die Zustimmung der Bevölkerung ein weiteres Mal gewonnen werden.